Einführung:
Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 wurde der Ausstieg aus der Kernkraft, der bereits im Jahr 2000 begonnen hatte, deutlich beschleunigt. Für diese Entscheidung gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Der Beschluss zum Ausstieg führt zu der Frage, was mit den stillgelegten Kernkraftwerken geschehen soll. Stehen lassen und dauerhaft verschließen oder vollständiger Rückbau? Nach der aktuellen Gesetzeslage ist ein dauerhafter sicherer Einschluss unzulässig. Aus diesem Grund hat die Landesregierung von Schleswig-Holstein bereits 2015 damit begonnen, über den Rückbau der Atomkraftwerke in Krümmel, Brunsbüttel und Brokdorf sowie des Forschungsreaktors des Helmholtz-Zentrum Geesthacht zu sprechen. Ziel der vom damaligen Umweltminister Dr. Robert Habeck breit angelegten Diskussion war es, eine freiwillige Vereinbarung über die „Entsorgung von Abfällen mit vernachlässigbarer Aktivität aus dem Abbau kerntechnischer Anlagen“ für Schleswig-Holstein abzuschließen (s. Anlage 1). Dazu wurden u.a. verschiedene Informationsveranstaltungen durch das Ministerium organisiert. Neben diversen Terminen in Kiel gab es am 22. März 2016 auch eine öffentliche Veranstaltung in den Räumlichkeiten der VHS Lübeck. Letztlich ist der Versuch, eine freiwillige Vereinbarung über die Entsorgung der Rückbauabfälle in Schleswig-Holstein abzuschließen, gescheitert.
Daraufhin wurde vom Ministerium eine Begleitgruppe gegründet, die sich insbesondere intensiv mit der Frage beschäftigt hat, wie der Teil der Rückbauabfälle entsorgt werden soll, der nach geltendem Abfallrecht zwingend deponiert werden muss. Die Arbeitsgruppe hat im Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2018 getagt. Teilnehmer waren neben verschiedenen Vertretern der Kommunen auch die Betreiber der Kernkraftwerke sowie drei Naturschutzverbände. Aus dem Abschlussbericht (s. Anlage 2) dieser Begleitgruppe geht hervor, dass nahezu einstimmig die Entsorgung auf bestehenden Deponien in Schleswig-Holstein im Rahmen eines „Deponie plus“ Modells weiterverfolgt werden sollte. Lediglich der BUND SH vertrat in Teilen eine abweichende Auffassung. „Deponie plus“ bedeutet, dass zusätzlich zu den gesetzlichen Vorgaben weitere Maßnahmen ergriffen werden sollen, die das Maß der Sicherheit objektiv und/oder subjektiv erhöhen soll.
Der in verschiedenen gesetzlichen Regelwerken verankerte Strahlenschutz hat die Aufgabe, die Menschen vor schädlicher Strahlung zu schützen. Deshalb unterliegen sämtliche Abfälle aus dem Rückbau kerntechnischer Anlagen ausnahmslos dem Atomrecht. Ungeachtet der Tatsache, dass es noch kein Endlager für radioaktive Abfälle gibt, dürfen zukünftig nur solche Abfälle dort eingelagert werden, von denen eine radioaktive Gefährdung ausgeht. Radioaktivität tritt aber nicht nur in Kernkraftwerken auf, sondern ist Bestandteil unserer natürlichen Umgebung. Es ist deshalb notwendig festzulegen, ab welcher Dosis eine gesundheitliche Beeinträchtigung durch Strahlung zu erwarten ist. Dazu wurden in der Strahlenschutzverordnung Grenzwerte definiert, deren Einhaltung über behördlich kontrollierte Messverfahren sichergestellt werden soll (Freimessung). Abfälle, die diesen Grenzwert unterschreiten, müssen aus dem Strahlenschutz entlassen werden und unterliegen anschließend dem Abfallrecht. Für bestimmte Abfälle gilt ein Beseitigungsgebot. Sie dürfen aufgrund ihrer stofflichen Eigenschaften, z. B. Asbest oder Mineralwolle nicht zurück in den Wirtschaftskreislauf. Das gilt dann auch für solche Abfälle aus dem Rückbau der Kernkraftwerke. Die Deponierung erfolgt in der Regel nicht aufgrund der Radioaktivität, sondern ist bedingt durch die sonstigen Eigenschaften des Abfalls.
Behandlung des Themas in den politischen Gremien der Hansestadt Lübeck
Der Umgang mit den Rückbauabfällen war Gegenstand der Sitzungen des Werkausschusses am 10. September 2015, 19. November 2015, 10. Dezember 2015, 21. Januar 2016, 09. Juni 2016, 14. Juli 2016, 13. September 2018, 12.September 2019, 24. Oktober 2019 (mit Teilnahme von Vertretern der Fa. Vattenfall als Betreiber und Vertretern des Umweltministeriums), 21. November 2019 (mit Teilnahme von Vertretern des Umweltministeriums), 10. September 2020 und 12. November 2020. Die Behandlung erfolgte jeweils im öffentlichen Teil der Sitzung. Wegen der Einzelheiten wird auf die Protokollauszüge verwiesen (s. Anlage 3).
In ihrer Sitzung am 28. November 2019 hat die Mehrheit der Bürgerschaft folgenden Beschluss gefasst:
„Keine Entsorgung freigegebener Abfälle aus Kernkraftwerken in Lübeck!
Die Lübecker Bürgerschaft lehnt die Einlagerung freigegebener Abfälle aus dem Abriss von
Kernkraftwerken auf der Deponie Niemark ab.
Der Lübecker Bürgermeister wird beauftragt, sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel und
Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass eine solche Deponierung verhindert wird.
Die Lübecker Bürgerschaft fordert die Landesregierung und alle Landtagsabgeordneten dazu auf, sich
dafür einzusetzen, dass für die Entsorgung freigegebener Abfälle aus Kernkraftwerken in Schleswig-
Holstein ortsnahe Endlager geplant und errichtet werden.“
In der Sitzung am 26. November 2020 hat die Bürgerschaft mehrheitlich einen weiteren Beschluss folgenden Inhalts gefasst:
„Wir bekräftigen den Beschluss der VO/2019/08174-01-01 vom 28.11.2019, der mehrheitlich von der Bürgerschaft beschlossen worden ist.
Die Lübecker Bürgerschaft lehnt die Einlagerung freigegebener Abfälle aus dem Abriss von Kernkraftwerken auf der Deponie Niemark ab.
Der Lübecker Bürgermeister wird beauftragt, sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten dafür einzusetzen, dass eine solche Deponierung verhindert wird.
Die Lübecker Bürgerschaft beauftragt den Bürgermeister mit der Durchführung einer Einwohner:innen befragung (gem. §16c Abs. 3 GO) mit der Fragestellung, ob die Einwohner:innen Lübecks einer Deponierung des als freigemessen bezeichneten Bauschutts aus Kernkraftwerken auf der Lübecker Deponie Niemark zustimmen oder ablehnen.
Im Zuge der Einwohner:innenbefragung sind die Lübecker:innen, wie in der Gemeindeordnung zu diesem Verfahren geregelt, ausführlich zu informieren. Hierbei sollen Informationen und Argumentationen sowohl der Befürworter:innen (Landesregierung SH) als auch von Gegner:innen (BUND, INTAC,ausgestrahlt) zur Freigabe radioaktiver Stoffe und des 10 Mikrosievert Konzepts berücksichtigt werden.
Die Lübecker Bürgerschaft fordert die Landesregierung und alle Landtagsabgeordneten dazu auf, sich dafür einzusetzen, dass für die Entsorgung freigegebener Abfälle aus Kernkraftwerken in Schleswig-Holstein ortsnahe Deponien geplant und errichtet werden.“
Aktueller Stand des Verfahrens:
Da die Geschäftsordnung der Bürgerschaft keine Regelungen zur Durchführung einer konsultativen Einwohner:innenbefragung gemäß §§ 16c Abs. 3 und Abs. 4 GO enthält, wäre zunächst eine entsprechende Beschlussfassung über die Änderung der Geschäftsordnung und die konkrete Umsetzung der Einwohner:innenbefragung erforderlich. Die Durchführung einer solchen Einwohner:innenbefragung würde – je nach konkreter Ausgestaltung – Kosten zwischen 250.000 und 350.000 € verursachen. Eine solche Art der Befragung könnte aus organisatorischer Sicht auch erst im zweiten Quartal 2021 durchgeführt werden, weil dazu noch die personellen Ressourcen fehlen. Da die zuständige Behörde bereits angekündigt hatte, zeitnah eine Zuweisung von Abfällen zu prüfen, sollte die Befragung vor Abschluss eines solchen Zuweisungsverfahrens durchgeführt werden. Es wird daher vorgeschlagen, statt einer konsultativen Einwoher:innenbefragung nach § 16c Abs. 3 GO, eine repräsentative Meinungsumfrage mit Unterstützung eines renommierten Meinungsforschungsinstituts durchzuführen. Die Kosten hierfür lägen bei ca. 60.000 bis 90.000 Euro. Die Umfrage könnte im ersten Quartal 2021 abgeschlossen werden.
Durchführung einer repräsentativen Meinungsumfrage
Repräsentative Umfragen ermöglichen es, aus einer kleinen Stichprobe Rückschlüsse auf das Meinungsbild einer größeren Bevölkerungsgruppe abzuleiten. Nur repräsentative Umfragen, deren Ergebnisse anhand bewährter statistischer Verfahren errechnet werden, können aussagekräftig für größere Teile der Bevölkerung (bei Landtagswahlen z. B. für die Bevölkerung eines Bundeslands) oder für die Gesamtbevölkerung (für bundesweite Umfragen) sein. Die Auswahl der Stichproben der Einwohnermeldeamtsdaten ist der optimale Weg zur Messung des Meinungsbilds in der Gesamtbevölkerung.
Da die Entsorgung von freigemessenen Abfällen alle Bewohner:innen der Hansestadt Lübeck gleichermaßen betrifft, sollte die Gruppe aus allen Geschlechtern, allen Stadtteilen und allen Altersgruppen gewählt werden. Allerdings sollte in Anbetracht der Komplexität dieses Themas ein Mindestalter von 16 Jahren gewählt werden. Es sollte ein Rücklauf von 1.000 Antworten angestrebt werden, um eine qualitative Auswertung und damit ein repräsentatives Abbild des Meinungsbildes in der Bevölkerung zu erzielen. Bei einer erwartungsgemäßen Rücklaufquote von 10 bis 20 % müssten dazu etwa 5.000 Personen auf Basis der Daten des Einwohnermeldeamtes ausgewählt werden. Die Auswahl der Stichprobe erfolgt mit Unterstützung eines renommierten Meinungsforschungsinstituts (z.B. Infratest dimap, IfD Allensbach oder Prognos). Dem Anschreiben würde neben einer allgemeinen Einführung in das Thema der Befragung ein Fragebogen beigefügt werden. Dieser Fragebogen sollte Fragen enthalten, die die generelle Haltung der Bevölkerung zum Atomausstieg behandeln, den Informationsstand beleuchten und die Meinung zur Entsorgung freigemessener Abfälle auf der Deponie in Niemark abfragen (s. Anlage 6). Die Antworten sollen ein tiefgründiges Bild über die Meinung der Lübecker Bevölkerung zeichnen und insbesondere den Informationsstand widerspiegeln. Die Abfrage ist als hybrides Verfahren geplant. Das bedeutet, die Antworten könnten entweder mittels beigefügtem Rückumschlag postalisch erfolgen oder online beantwortet werden. Dazu enthält das Anschreiben einen individuellen Zugangscode zu einer separaten Onlineplattform. In einem geschützten Bereich können dann die Fragen max. einmal beantwortet werden. Ist der Code benutzt, schließt sich der Zugang und der Code ist nicht mehr verwendbar. Der für alle Bürger:innen frei zugängliche Bereich dieser Website enthält weiterführende Informationen sowohl der Gegner als auch der Befürworter einer solchen Entsorgung auf der Deponie Niemark. Die wesentlichen Argumente beider Seiten werden ebenfalls im Rahmen der Umfrage dargelegt und sind der Anlage 4 zu entnehmen.
Die Auswahl der anzuschreibenden Einwohner:innen erfolgt nach den oben beschriebenen Kriterien. Damit die Auswertung repräsentativ erfolgen kann, müssen auch die Rückläufer nach diesen Kriterien gefiltert werden. Wichtig für eine qualifizierte Auswertung ist auch, dass verschiedene Fragen zu diesem Thema gestellt werden. Bei einer einzigen Frage ist die Gefahr hoch, dass es ein sehr einseitiges Ergebnis gibt, dass keine differenzierte Auswertung zuließe. Gerade vor dem Hintergrund des parallel laufenden Zuweisungsverfahrens ist eine möglichst belastbare Argumentation gegenüber der Landesregierung zwingend erforderlich, um die Entscheidung der zuständigen Behörde im Sinne der Hansestadt Lübeck zu beeinflussen.