Silber-Weide

Salix alba - Baum des Jahres 1999

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Hörtext als Kurzfassung

Komm, rauschender Wind, tanz mit mir!

Wenn der Wind durch die Baumkronen streift, erkennen Sie mich und meine Geschwister sofort. Und Sie wissen auch, warum ich Silber-Weide heiße. Denn meine kleinen, lanzettartigen Blätter haben auf der Unterseite seidige Härchen, die silbrig schimmern, wenn die Luft sie zum tanzen bringt. Auch mein wissenschaftlicher Name »salix« soll sich auf mein glänzendes Äußeres beziehen. Er leitet sich angeblich von dem lateinischen Wort »sal« für Salz ab und verweist auf den Salzstein, der eine ähnlich silbergraue Färbung hat wie meine Blätter.

Für mich sprechen aber auch innere Werte. Überall dort, wo es neue Flächen zu besiedeln gibt, bin ich ganz vorne dabei – wie es sich für eine echte Pionierbaumart gehört. Mit meinen breit verzweigten und kräftigen Wurzeln befestige ich für die nachkommenden Baumarten den Boden. So war es auch nach den Eiszeiten. Da haben meine Ahnen dafür gesorgt, dass das mit dem Wald wieder in Gang kam.

Sobald aber andere Bäumarten erst mal nachgezogen sind, ist es für meinesgleichen meistens vorbei. Der Grund: Ich brauche so viel Licht, dass ich sogar unter mir selbst nicht keimen kann. Einen reinen Weidebestand kann man deshalb auch nicht schützen, indem man ihn sich selbst überlässt. Wir würden uns quasi selbst den Garaus machen. Für meinen Fortbestand kann ich nur hoffen, dass ich woanders viele Nachkommen ansiedele. Dafür sorge ich mit allen Mitteln: Zum Beispiel mit Millionen von Samen. Sie sind fedrig behaart und verbinden sich zu einer Art Wattebäuschen. Weil sie sehr leicht sind, können sie bis zu 50 km weit fliegen.

Und dann kann ich noch etwas, was man durchaus als Überlebens-Kunststück bezeichnen darf. Wenn ich zu stark belaubt bin und mein Blattwerk sich dadurch selbst das Licht nimmt, werfe ich einzelne Äste kurzerhand ab. Dazu habe ich extra einen Trennmechanismus an den Ästen. Weil ich gerne in Auenwäldern am Ufer lebe, fallen die abgeworfenen Äste ins Wasser, werden fortgetragen und schlagen Wurzeln, sobald die irgendwo an Land hängen bleiben. Sollten Sie dieses Phänomen also einmal beobachten: Ich bin nicht krank, sondern einfach extrem vital.

Nach der Pappel – die wie ich zur Familie der Weidengewächse gehört – bin ich der am schnellsten wachsende Baum Mitteleuropas. Am liebsten wachse ich auf feuchten Sandböden, die auch gerne mal überschwemmen dürfen. Im Gegensatz zu den meisten meiner Artverwandten bin ich die größte und langlebigste heimische Weidenart. Ich wachse zu einem Baum mit ausladender Krone, der gut und gerne 25 Meter hoch werden kann. Alt werde ich allerdings nicht. Nach 120 Jahren ist meist Schluss. Für Bäume ist das nichts besonderes.

Bis in die 1950er Jahre wurde ich – wie die Korbweiden – zu sogenannten »Kopfweiden« zurückgeschnitten. Jahr für Jahr hat man dazu meine äußerst biegsamen Triebe bis zum Stamm abgehackt. Sie wurden dann für allerlei Nützliches im Haushalt verwendet. Vor allem die Korbflechter haben mich geschätzt. Seitdem es Einkaufs- und Wäschekörbe aus Plastik gibt, ist meine Karriere in dieser Hinsicht vorbei. Vielerorts hat man mich dann einfach wachsen lassen. Was mir nicht gut tut, denn wenn meine Triebe ungezügelt wuchern, breche ich irgendwann einfach auseinander. Außerdem ist es ja mit dem Licht schwierig, wie ich eben schon erzählte. In einigen Gegenden Deutschlands – zum Beispiel am Niederrhein oder in den altmärkischen Elbauen – prägen Kopfweiden aber immer noch das Landschaftsbild. Dafür bin ich den Baumpflegern und Naturschützern wirklich sehr dankbar.

Auch meine Rinde wurde früher verwertet. Sie enthält Salicin und wurde als Heilmittel verabreicht. Sie hilft bei Fieber, Gicht und Gelenkrheumatismus. Und wenn ihnen bei dem Begriff Salicin die Salizylsäure einfällt, ist das genau richtig: Salicin wird im Körper zu Salizylsäure umgewandelt und ist die natürliche Ausgabe des Wirkstoffs in dem Medikament Aspirin.

Mythologisch habe ich viel zu bieten. In der germanischen Sagenwelt wohnte der Todesgott in einem Weidenbaum. Bei den Griechen wuchs ich auf einem schmalen Landsaum zwischen dem Reich des Sonnengottes Helios und dem Reich des Totengottes Hades. Auch auf frühen chinesischen Orakelknochen waren bereits Schriftzeichen für die Weide eingeritzt. Bis heute beschreibt das Wort »Qi« in China sowohl die Weide als auch den Lebensatem.

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