Wild-Apfel

Malus sylvestris - Baum des Jahres 2013

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Hörtext als Kurzfassung

Gestatten, mein Name ist Apfel. Wilder Apfel.

Manch einer nennt mich auch Holzapfel und glaubt, dass ich der Stammvater des Kulturapfels bin. Das stimmt aber nicht ganz, weil dessen Vorfahren aus Persien kommen. Es gibt Menschen, die zweifeln übrigens, dass es mich überhaupt noch gibt. Denn innerhalb meiner Art bin ich so variabel, dass man mich von verwilderten Kulturäpfeln kaum unterscheiden kann. Wie im wirklichen Leben hilft da manchmal nur ein Gentest. Dass ich heute so selten bin, liegt auch daran, dass ich mich gegen andere Bäume schlecht durchsetzen kann. Deshalb freue ich mich, dass man sich in Lübeck so gut um mich kümmert. Wenn Sie mich einmal persönlich kennen lernen wollen: Sie finden mich im Stadtgarten bei den Kulturpflanzen hinter dem Seerosenbecken.

Es heißt, über Rosen soll man dichten, in die Äpfel soll man beißen. Na ja, bei Adam und Eva ist das ja gründlich schief gegangen. Obwohl? Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einmal etwas klarstellen: Zu der Zeit gab es im mosaischen Land noch gar keine Apfelbäume. Hinzu kommt, dass meine Früchte gar nicht schmecken. Es sind kleine, gelbgrüne Kugeln – herbsauer und holzig. Für Menschen sind sie eigentlich nur gedörrt oder eingekocht zu empfehlen. Wer weiß – vielleicht ist ja in der Geschichte mit dem Paradies ganz grundsätzlich der Wurm drin.

Erst die Römer haben mich dann wirklich kultiviert. Durch sie bin ich auch – am Ende einer langen Europareise – nach Lübeck gekommen. In der frühen Neuzeit gab es bereits so viele Sorten von mir, dass keiner mehr durchblickte. Heute kennt man über tausend verschiedene Kulturvarianten. Von ihnen unterscheide ich mich natürlich durch die Größe und Güte meiner Früchte. Aber auch, weil ich Sprossdornen entwickele und meine Blätter nur unterseitig behaart sind. Ansonsten bin ich ein sommergrüner Baum, der rund zehn Meter hoch wird und sich im April bis Mai von seiner schönsten Seite zeigt: Dann bin ich übervoll mit weiß-rosa Blüten.

Mein natürliches Verbreitungsgebiet ist Europa und Vorderasien. Meine natürlichen Standorte sind Flussauen und Gebiete an der Nässegrenze des Waldes. Hier habe ich gegenüber der Buche klare Standortvorteile. Da diese Standorte durch menschliche Eingriffe stark verkleinert wurden, bin ich vom Aussterben bedroht. Hinzu kommt, dass ich eine Zeit lang als vollkommen nutzlos angesehen und deshalb abgeholzt wurde. Inzwischen pflanzen mich die Jäger wieder häufiger als Wildfutter an. Um mich aber vor dem Aussterben zu retten, braucht es schon etwas mehr Einsatz: Streuobstwiesen und Patenschaften sind da sicher ein guter Anfang.

fruchtbar, sündig und verjüngend

In der Kulturgeschichte stand ich immer schon für alles Weibliche und wurde Göttinnen geweiht, die für Liebe, Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit standen. Bei den Babyloniern war es Ištar, bei den Griechen Aphrodite und bei den Germanen Idun. Die germanische Idun herrschte über die goldenen Äpfel des Lebens, die denjenigen verjüngen konnten, der sie aß. Die griechische Aphrodite steht sowohl für die reine himmlische als auch für die profane irdische Liebe. Und die Babylonische Ištar verkörperte den Planeten Venus und war unter anderem die Göttin des sexuellen Begehrens. Und um noch einmal auf das Paradies zurück zu kommen: für die Kelten war dies die Insel Avalon – was so viel bedeutet wie Apfelland. Dort herrschte die Licht- und Todesgöttin Morgaine. Sie gab den keltischen Königen kurz vor ihrem Tod einen Apfel oder einen besonderen Apfelzweig, der ihnen den Weg in das Land der Jugend öffnete.

»An apple a day keeps the doctor away« Was die Engländer so trefflich ausdrücken, soll schon König Herodes gewusste haben: Man schreibt ihm zu, jedes Mahl mit einem Apfel beendet zu haben. Doch selbst bei diesen Äpfeln wird es sich wahrscheinlich schon um eine meiner Kulturformen gehandelt haben. Sei’s drum: frisch genossen enthalten meine Früchte viel Vitamin C und Mineralstoffe. Vor dem Schlafengehen gegessen, sollen sie für eine angenehme Nachtruhe sorgen. Je nach Zubereitung können sie auch ganz gegenteilige Leiden lindern: normalerweise fördern sie die Verdauung. Werden sie aber gerieben gegessen, helfen sie gegen Durchfall. Und auch Obstweine wie der Frankfurter »Äppelwoi« oder der bretonische »Cidre« sind keine neuzeitliche Erfindung: Griechen und Römer tranken »Sidera« und die Germanen gossen sich schon mal einen »Cit« hinter die Binde. Na denn: Prost!

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