Vorlage - VO/2019/07832  

Betreff: Anfrage BM Antje Jansen (GAL): Inklusion in der Kinderbetreuung von U-3, Ü-3 und Schulkindern in Kindertageseinrichtungen
Status:öffentlich  
Federführend:Geschäftsstelle der FREIE WÄHLER & GAL Fraktion Bearbeiter/-in: Mentz, Katja
Beratungsfolge:
Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck
20.06.2019 
9. Sitzung der Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck zur Kenntnis genommen / ohne Votum   

Beschlussvorschlag
Sachverhalt
Anlage/n

Beschlussvorschlag

1. Stellt die Stadt Lübeck Inklusion für Schulkinder in ihren Horten (= Kindertageseinrichtung) ausnahmslos sicher? Wenn nein:

a. Warum nicht?

b. Ist für den Fall der Nichtsicherstellung der Inklusion in Horten dies rechtskonform mit der geltenden Inklusionsverpflichtung gemäß der einschlägigen Paragraphen der UN-Behindertenrechtskonvention, dem SGB VIII und dem KitaG? Antwort bitte begründen.

2. In der Antwort der Verwaltung auf unsere Anfrage "Ganztägige Betreuung I-Kinder 0-14 Jahren", Nr. VO/2019/07407-01 wird berichtet, dass eine Ganztagesbetreuung von Kindern mit besonderem Förderbedarf ab dem Kitajahr 2019/2020 in vier Modellkitas erfolgen wird. Sind diese Modellkitas inklusive Kitas oder sind es Kitas, die Integrationsgruppen haben?

3. In der Antwort auf unsere Anfrage "Ganztägige Betreuung I-Kinder 0-14 Jahren", Nr. VO/2019/07407-01 wird berichtet, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf in Integrationsgruppen betreut werden sollen. Wenn Eltern Inklusion und nicht Integration wünschen: Wird dies in jedem Falle sichergestellt? Wenn nein:

a. Ist dies rechtskonform mit der geltenden Inklusionsverpflichtung gemäß der einschlägigen Paragraphen der UN-Behindertenrechtskonvention, dem SGB VIII und dem KitaG? Antwort bitte begründen.

b. Ist dies rechtskonform mit dem gesetzlich verankerten Wunsch- und Wahlrecht von Eltern? Antwort bitte begründen.

4. In der Antwort auf die Anfrage "Ganztägige Betreuung I-Kinder 0-14 Jahren", Nr. VO/2019/07407-01 wird nicht auf die Frage geantwortet, ob eine ganztägige Kinderbetreuung für Kinder mit besonderem Förderbedarf 0-14 Jahre in dem von Eltern angemeldeten subjektiven Betreuungsumfang erfolgt. Daher die Fragen:

a. Wird der von Eltern angemeldete subjektive Betreuungsumfang im Falle von Kindern mit besonderem Förderbedarf vom Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe objektiviert? Antwort bitte begründen.

b. Wenn eine Objektivierung des angemeldeten subjektiven Betreuungsbedarfes im Falle von Kindern mit besonderem Förderbedarf erfolgt: Auf welcher rechtlichen Grundlage erfolgt die Objektivierung des von Eltern angemeldeten subjektiven Betreuungsumfanges für ihre Kinder mit besonderem Förderbedarf? Antwort bitte begründen.

 


Begründung

Kinderbetreuung wird in Lübeck in Kindertageseinrichtungen und der Kindertagespflege in dem von Eltern angemeldeten subjektiven Betreuungsumfang sichergestellt, wie in der Antwort auf unsere Anfrage (S. 2/3 in der Antwort Nr. VO/2019/06955) festgehalten wurde:

 

Stadt Lübeck: "Durch die jüngste - insoweit geänderte - Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich eine neue Rechtsauslegung. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts betrifft die Regelungen des § 24 Abs. 2 SGB VIII, somit die Betreuung von Kindern ab Vollendung des ersten Lebensjahres bis Vollendung des dritten Lebensjahres. Für diese Altersgruppe ist die bisherige Praxis, den individuellen Betreuungsbedarf zu objektivieren, nicht länger haltbar. Deshalb wird in der Kindertagespflege eine Bedarfsprüfung für die genannte Altersgruppe nicht mehr durchgeführt, der Betreuungsumfang bemisst sich allein durch den von den Eltern vorgetragenen individuellen Bedarf, begrenzt durch das Wohl des Kindes. Gleiches gilt grundsätzlich auch für die Kindertageseinrichtungen (...)"

 

D.h. es findet weder eine Objektivierung des subjektiv angemeldeten Betreuungsbedarfes in Kindertageseinrichtungen in Lübeck, noch - seit 2019 als Resultat der Anfrage unserer Fraktion - in der Kindertagespflege statt (mit der Ausnahme für den Fall, dass der subjektiv angemeldete Betreuungsbedarf eine Kindeswohlgefährdung wäre. In einem solchen angenommenen Falle gelten hohe rechtliche Prüfanforderungen. Eine Kindeswohlgefährdung aufgrund eines von Eltern angemeldeten subjektiven Betreuungsumfanges ist rechtlich nicht ohne weiteres durch die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe festlegbar, sondern unterliegt strengen Prüf- und Nachweiskriterien.) Das Verbot der Objektivierung des angemeldeten subjektiven Betreuungsbedarfes für Kinder durch die Eltern gilt nach Auskunft der Verwaltung also im Regelfall für alle Altersgruppen in der Kindertagesbetreuung in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege. Die Antwort auf unsere Anfrage VO/2019/07407-01 legt jedoch nun den Schluss nahe, dass diese Regelung im Falle von Kindern mit besonderem Förderbedarf keine Gültigkeit hat bzw. nicht angewendet wird.

 

Des Weiteren ist auszuführen, dass Integration nicht gleichbedeutend mit Inklusion ist, die einschlägigen internationalen und nationalen Gesetze in Deutschland aber Inklusion und nicht Integration zur Pflicht machen:

 

Rechtliche Belege der Inklusionspflicht im Regelfall

 

1. Juristischer Kommentar zu § 22a SGB VIII jurisPK-SGB VIII Rixen:

 

Rn.17:

"(...) § 22a Abs. 4 SGB VIII regelt (...) die Frage, ob die Förderung in Gruppen gemeinsam erfolgt, also in Gruppen, der Kinder mit und ohne Behinderung angehören. Dies muss regelmäßig geschehen (…), darf also nur in einer atypischen Sondersituation nicht geschehen. Fiskalische Gründe oder ein organisatorischer Mehraufwand, die Suche nach geeignetem Personal sind in aller Regel kein solcher atypischer Fall, weil nach der Logik des SGB VIII die Deckung eines solchen Bedarfes durch rechtzeitige Planung grundsätzlich möglich ist (…)."

 

Rn. 19:

"Es ist zumindest vorstellbar, dass der Hilfebedarf des Kindes mit Behinderung derart ungewöhnlich ist, dass seinem Förderbedarf in einer Gruppe nicht Rechnung getragen werden darf. Um (bei realistischer Betrachtung nicht auszuschließende) verdeckte (mittelbare)  Diskriminierungen zu vermeiden, kann ein solcher Fall nur ein absoluter Ausnahmefall sein. Nötig ist zunächst eine genaue, sozial beziehungsweise heilpädagogisch qualifizierte Bestimmung des Hilfebedarfs des Kindes mit Behinderung. Ist danach eine pädagogisch kohärent konzipierte Betreuung in einer Gruppe für den Träger der öffentlichen Jugendhilfe und jeder der Einrichtungen in seinem Zuständigkeitsbereich objektiv nicht realisierbar oder mit schlechterdings unzumutbaren organisatorischen Lasten verbunden, die die finanzielle Funktionsfähigkeit des Trägers dauerhaft infrage stellen, nur dann greift der Vorbehalt. Finanzielle Erwägungen können also allenfalls in diesem Ausnahmefall, für den strenge Anforderungen gelten, relevant sein. Effektive Inklusion, auch in inklusiv konzipierten Gruppen kostet - selbstverständlich - Geld. Könnte das Argument des Geldes regelmäßig greifen, würde dies zum Ende jeder Inklusion führen. Das kann im Lichte eines im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention effektuierten Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht richtig sein."

 

§ 4 KitaG Schleswig-Holstein:

"Behinderungen, Beeinträchtigungen und Benachteiligungen eines Kindes sollen durch gemeinsame Erziehung aller Kinder und durch individuelle Hilfe ausgeglichen oder verringert werden. Die gemeinsame Erziehung soll auch erreichen, daß alle Kinder sich in ihren unterschiedlichen Befähigungen anerkennen, emotional positive Beziehungen aufbauen und sich gegenseitig unterstützen."

 

§ 5 (9) KitaG Schleswig-Holstein:

"Behinderte und nicht behinderte Kinder sollen in Kindertageseinrichtungen und Tagespflegestellen gemeinsam gefördert werden"

 

§ 9 (12) KitaG Schleswig-Holstein:

"Grundsätzlich darf die Aufnahme eines Kindes in eine Kindertageseinrichtung nicht aus Gründen einer Behinderung verweigert werden. Die Möglichkeit, ein behindertes Kind in eine wohnungsnahe Kindertageseinrichtung aufzunehmen, muß geprüft werden. Integrationsmaßnahmen erfolgen auf der Grundlage der entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen individuell in Abstimmung mit den Erziehungsberechtigten und den sonstigen an der Behandlung und Förderung beteiligten Stellen. Ablehnungen werden dem Beirat und dem oder der Behindertenbeauftragten mit Begründung schriftlich mitgeteilt."

Über allen vorgenannten Gesetzen steht zusätzlich die UN-Behindertenkonvention, nach der Inklusion ebenfalls verpflichtend ist. Verena Bentele, Beauftragten der Bundesregierung für die Belange für Menschen mit Behinderung führt hierzu 2017 in "Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen", S.2 aus:

"Das Leitbild der Behindertenrechtskonvention ist "Inklusion". Es geht also nicht darum,

dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben und selbst gestalten zu können."  (vgl. https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/Publikationen/UN_Konvention_deutsch.pdf?__blob=publicationFile&;v=2)

Festzuhalten ist, dass Integration nicht Inklusion bedeutet, sondern etwas gänzlich anderes und vom Gesetzgeber verpflichtendes ist:

 

Annelotte Cobler: "(...) Obwohl die beiden Begriffe oft als Synonyme füreinander verwendet werden, bedeuten sie nicht dasselbe. Der große Unterschied zur Inklusion besteht darin, dass bei der Integration ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen in ein bereits bestehendes System aufgenommen wird. Das System passt sich nicht extra dem Menschen mit dem besonderen Bedarf an, sondern nimmt ihn auf und bezieht ihn in ein Umfeld mit ein, das seinen Bedürfnissen eigentlich nicht gerecht wird. Vom diesem Menschen wird erwartet, dass er sich anpasst. Die Integration ist Individuum-zentriert, während bei der Inklusion die Gesamtheit aller Mitglieder von Bedeutung ist. Keiner soll ausgeschlossen werden.

Die Inklusions-Expertin Lisa Reimann erklärt den Unterschied zwischen den beiden Begriffen wie folgt: "Während es bei der Integration viel um das ,Dazu holen' ging, wird bei der Inklusion Vielfalt zum Normalfall und die Teilhabe aller selbstverständlich. Es geht nicht mehr darum, jemanden einzugliedern, wenn von Anfang an sowieso alle dabei sind. Das Grundverständnis ist nicht ,Pass dich an, dann gehörst du dazu' sondern: Wir schaffen Bedingungen, damit alle Menschen gleichberechtigt teilhaben können - unabhängig von Behinderung, Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, Herkunft, Religion/Weltanschauung usw.",

vgl. https://www.betreut.de/magazin/kinder/was-ist-inklusion-2/

 


Anlagen