Günter Grass-Haus
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Vom 25. Juni bis 9. November 2025 widmet das Günter Grass-Haus in Lübeck eine Sonderausstellung einer der außergewöhnlichsten Künstlerinnen und Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts: Else Lasker-Schüler (1869–1945) beeindruckte mit ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber gesellschaftlichen und politischen Zwängen. Mit ihren Texten, Bildern, Briefen und Performances öffnet sie eine poetische Welt, die im Herzen der avantgardistischen Strömungen liegt, der Verschmelzung von Kunst und Leben. Mit ihrem Alter Ego „Prinz Jussuf von Theben“ etablierte sie sich als lebendiges Gesamtkunstwerk jenseits aller Konventionen – ihrer Zeit weit voraus. Zusammen mit ihrer ebenso eigenständigen und selbstbewussten Lebensweise könnten die Themen nicht aktueller sein. Ihr Leben und Werk steht bis heute für (künstlerische, politische, kulturelle und sexuelle) Freiheit, Toleranz und Vielfalt. Lasker-Schüler prägte große deutsche Künstler wie Franz Marc und Lyriker wie Gottfried Benn.
„Es ist wichtig anzuerkennen, dass Lasker-Schüler einen Schritt weiterging als die breite Masse, indem sie ihre Kunst jenseits der Konventionen lebte. Ob ihre poetische Gegenwelt auch Schutz vor der immer stärker werdenden Gewalt des Nationalsozialismus bot, lässt sich schwer sagen – doch es steht außer Frage, dass Lasker-Schüler bis zum Ende ein Ideal der weitreichenden Toleranz lebte, sowohl sich selbst als auch ihrem Umfeld gegenüber.“
Dr. Paula Vosse, Kuratorin der Ausstellung
Die Ausstellung lädt dazu ein, die Zeitlosigkeit ihres Schaffens und ihrer Vita zu entdecken. Trotz begrenzter Ausstellungsfläche zeigt das Günter Grass-Haus eine vielseitige und wechselnde Schau, die über die Vermittlung generationsübergreifend wirkt. Neben der Dauerausstellung über den Nobelpreisträger präsentiert das Museum regelmäßig auch Künstler:innen, die wie Grass über sogenannte Doppel- oder Mehrfachbegabungen verfügen. Grass selbst widmet Lasker-Schüler in „Mein Jahrhundert“ eine Anekdote: Er berichtet von drei Originalpostkarten der Dichterin an Gottfried Benn, die er angeblich in einem Berliner Trödelladen entdeckt habe. Ob es sich dabei um Realität oder Fiktion handelt, bleibt offen – ganz im Sinne der medienübergreifenden Erzählerin Lasker-Schüler, die das Spiel mit der Realität so sehr liebte.
Kuratiert von Dr. Paula Vosse, vereint die Ausstellung hochkarätige Leihgaben u. a. von der Else Lasker-Schüler Gesellschaft, der Akademie der Künste Berlin oder der Deutschen Schillergesellschaft e.V. Auch Werke aus privaten Sammlungen, etwa von Strätz, Wassermeyer und Hunnekuhl, sind vertreten.
Eine Reise durch das Universum „Lasker-Schüler“
Die Ausstellung zeigt (teils in Wechselhängung):
· über 45 Originalzeichnungen; Highlight: eine bislang unveröffentlichte Zeichnung – eine Neuerwerbung der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft, die nicht im Werkverzeichnis gelistet ist
· mehr als 20 illustrierte Briefe und Postkarten an Freund:innen, Künstlerkolleg:innen und Verleger
· über 30 Publikationen, darunter seltene Erstausgaben
· zeitgenössische Perspektiven: Filme und Kostüme – Arbeiten junger Künstler:innen, die sich kreativ mit Lasker-Schülers Werk auseinandersetzten
Dichterin, Künstlerin, Weltenbauerin
· Dichterin: Während ihre Zeichnungen klar und zugänglich sind, faszinieren Else Lasker-Schülers Texte durch Vieldeutigkeit. Ihr innovativer, spielerischer Umgang mit Sprache polarisierte – zwischen Unverständnis und Begeisterung. Gerade diese Sprachspiele offenbaren ihren scharfsinnigen Witz und intellektuellen Tiefgang. Werke wie „Weltende“ (1903) und „Mein blaues Klavier“ (1937) zählen bis heute zu den bedeutendsten der expressionistischen Lyrik. Die Ausstellung präsentiert lyrische, dramatische und prosaische Publikationen der meistvertonten Dichterin deutscher Literatur.
· Künstlerin: In ihren Bildwerken formte Lasker-Schüler ab der Jahrhundertwende Ihre unverkennbare visuelle Sprache. Klare, reduzierte Linien, collagierte Goldflächen aus Bonbonpapier und Motive nahöstlicher Märchen erschaffen ihr „Tiba“ – ein imaginäres Königreich zwischen Traum und Kunst, angelehnt an das historische Theben.
· Weltenbauerin: Else Lasker-Schüler schuf mit ihrer Kunst eine Welt der Offenheit und Vielfalt, in der die Einheit des Unvereinbaren gefeiert wird. Ihre Texte und Zeichnungen setzen der zeitgenössischen Ausgrenzung eine poetische Welt entgegen. Als lebendiges Gesamtkunstwerk wird Lasker-Schüler legendär: In den Berliner Cafés der Weimarer Republik tritt sie als „Jussuf, Prinz von Theben“ auf. Mit Worten, Klängen und Bewegungen erschuf sie eine mystisch-poetische Erfahrung, die das Publikum aus der düsteren Realität in eine zauberhafte Fiktion entführte.
Einblicke in das Vermittlungskonzept
Die Ausstellung richtet sich an ein breites Publikum. Die komplexen Zusammenhänge von Else Lasker-Schülers Leben und Werk werden anhand eines mehrdimensionalen Vermittlungskonzepts erläutert. Die Wandtexte sind mit einem Glossar verlinkt, das einerseits in Fachsprache und andererseits in Jugendsprache verfasst ist. Dieses Glossar ist zugleich informativ und unterhaltend. Es verdeutlicht Zusammenhänge aus Elses Zeit und setzt Verbindungen in die Gegenwart.
Besondere Highlights sind die neu produzierten Kurzfilme junger Filmschaffender, die sich mit dem von Lasker-Schüler verfassten Filmskript „Plumm-Pascha“ (1913) auseinandersetzen – ein bis heute unverfilmter Beitrag zur Drehbuchgeschichte. Und auch die drei Kostüme „Else damals“, „Else heute“ und „Schutzkörper“, die in Auseinandersetzung mit der Künstlerin entstanden, leisten Zeugnis einer zeitgenössischen Sichtweise auf das Werk der Künstlerin.
Vernissage am 24. Juni 2025, 19 Uhr – Ein Abend zwischen Bühne, Klang und Poesie
Die Vernissage vereint Literatur, Schauspiel und Musik. Die Schauspielerin Nellie Thalbach liest aus dem Werk Lasker-Schülers und bringt deren poetische Kraft mit feiner Nuancierung und starker Präsenz auf die Bühne. Musikalisch begleitet wird der Abend von der Kölner Band KESHAVARA, deren genreübergreifender Sound zwischen Pop, Experiment und Mystik perfekt zum Geist der Künstlerin passt.
Nellie Thalbach, die jüngste Vertreterin der renommierten Schauspiel-Dynastie (Anna, Katharina und Sabine Thalbach), gilt als eine der markantesten Bühnenstimmen ihrer Generation. Ihre Interpretationen verbinden spielerische Leichtigkeit mit emotionaler Tiefe – eine ideale Besetzung für die Texte Lasker-Schülers, die zwischen kindlicher Fantasie, tiefem Weltschmerz und scharfem Witz changieren.
Ihr Auftritt steht dabei in inhaltlichem Bezug zur Ausstellung: Wie Else Lasker-Schüler selbst mit Sprache spielte, Identitäten erfand und Bühnen schuf, so wird auch Thalbach zur performativen Vermittlerin dieser komplexen Künstlerin – ganz im Sinne des Günter Grass-Hauses, das Kunst stets auch als lebendige Begegnung begreift.
KESHAVARA – Ein „Kabinett der Phantasie“ trifft auf das „Tiba“ der Else Lasker-Schüler
In ihrer aktuellen Live-Inszenierung, dem „Kabinett der Phantasie“, verschmilzt KESHAVARA Musik, Film, Poesie und Performance zu einem Gesamterlebnis – ein Konzept, das auf frappierende Weise das ästhetische Denken Lasker-Schülers aufgreift.
Die oft surrealistisch-rhythmisch anmutenden Klanglandschaften und kostümierten Auftritte der Band korrespondieren mit der poetischen Gegenwelt, die Lasker-Schüler in ihrem fiktiven „Tiba“ oder romantisierten „Theben“ erschuf.
Indem Keshav Purushotham (Gesang, Gitarre), Niklas Schneider (Schlagzeug, Perkussion), Benedikt Filleböck (Keyboards) und Christopher Martin (Bass) die Grenzen zwischen Genres, Sprachen und Kulturen auflösen, knüpfen sie unmittelbar an den Geist der Ausstellung an – interdisziplinär, verspielt, utopisch. Das Günter Grass-Haus, das sich regelmäßig als Bühne für solche künstlerischen Experimente öffnet, bietet hierfür den idealen Rahmen.
Kreative Outfits und inspiriertes Crossdressing sind ausdrücklich erwünscht – ganz im Sinne der Künstlerin, die Konventionen stets spielerisch unterlief.
Beginn: 19 Uhr | Ort: Günter Grass-Haus, Glockengießerstraße 21, 23552 Lübeck
Die Teilnahme beträgt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro.
Tickets sind online unter https://grass-haus.de/veranstaltung-buchen?vid=10975 erhältlich.
Weitere Informationen unter https://grass-haus.de
Wiedereröffnung des Hauses
Mit dieser Sonderausstellung wird zugleich die Wiedereröffnung des Günter Grass-Hauses gefeiert. Nach einer mehrmonatigen Sanierungsphase – unter anderem zur Erneuerung der Beleuchtungstechnik und des Brandschutzes – präsentiert sich das Museum in neuem Licht und alter Stärke. Aus diesem Anlass lädt das Museum am Wochenende vom 28. bis 29. Juni zu jeder vollen Stunde kostenlos zu einer 60-minütigen Führung ein, in der sowohl die Dauerausstellung „Das ist Grass“ als auch die aktuelle Sonderausstellung „Else Lasker-Schüler: Künstlerin, Dichterin, Weltenbauerin“ vorgestellt werden.
Lediglich der Eintritt ins Museum in Höhe von 8 Euro ist zu entrichten. Da die Teilnehmer:innenzahl begrenzt ist, ist der Kauf eines Eintrittstickets vor Ort im Shop oder online unter https://grass-haus.de/programm erforderlich.
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Quelle: Die Lübecker Museen
