Still. Stark. Bereit für die Zukunft
Manche nennen mich bescheiden, andere unauffällig. Doch in diesem Jahr stehe ich als Baum des Jahres 2024 endlich einmal im Rampenlicht: Denn ich habe mehr zu erzählen, als Sie vielleicht denken. Ich gehöre nicht zu den Lauten unter den Bäumen. Bin kein mächtiger Gigant, kein auffälliger Exot. Aber genau darin liegt meine Stärke: Ich wachse dort, wo andere Bäume längst aufgeben. Standhaft trotze ich Hitze, Trockenheit und Wind – in Zeiten des Klimawandels bin ich also ein echter Baum der Zukunft, auch wenn meine Wurzeln tief in der Vergangenheit liegen.
Wurzeln in Europa
Ich bin eine überzeugte Europäerin. Meine Ursprünge liegen im Süden und Osten des Kontinents, von wo aus ich mich still und stetig ausgebreitet habe. In Deutschland fand ich besonders in Mittelgebirgen, auf Kalkhängen und in lichten Wäldern ein Zuhause. Mittlerweile habe ich auch Dörfer und Städte für mich entdeckt und bin ohne großes Aufsehen in vielen Regionen heimisch geworden. Vielleicht ist das meine größte Stärke: Ich gehöre dazu, ohne zu dominieren. Ich bin da, wo Vielfalt lebt. Und das schon seit Jahrtausenden. Schon die Kelten wussten um meine Kräfte und glaubten, dass ich vor bösen Geistern schütze. In alten Mythen bin ich ein Baum der Schwelle – zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Alltäglichem und Magischem.
Vielseitige Beeren
Auch im Haushalt und der Volksmedizin war ich einst geschätzt. Mein Name Mehlbeere klingt ja bereits nach einer Backzutat. Tatsächlich hat das mit meinen kleinen, apfelartigen Beerenfrüchten zu tun. Sie sind roh zwar eher mehlig und herb, aber getrocknet und gemahlen hat man sie früher als Mehlersatz verwendet – besonders in Zeiten, in denen Getreide knapp war. Außerdem sind sie reich an Gerbstoffen, so dass sie auch als Heilmittel gegen Durchfall galten. Heute bin ich vielleicht nicht mehr aus jeder Hausapotheke bekannt, dafür schätzen mich Vögel und kleine Säugetiere als Futterquelle in Herbst- und Wintertagen.
Unterschätzt – und doch so wertvoll
Mein Holz ist fest, dicht und langlebig. In früheren Zeiten wurde es gern für Werkzeuge, Drechselarbeiten oder Haushaltsgegenstände genutzt. Bögen, Wurfspieße, Radspeichen: Was hat man nicht alles aus mir gefertigt! Heute werde ich seltener verarbeitet, obwohl mein Holz als nachhaltig gilt – regional verfügbar, robust und schön in der Maserung. Vielleicht wächst mit meiner Auszeichnung zum Baum des Jahres auch wieder das Interesse an meinem inneren Wert. Denn ich bin alles andere als ein Wegwerfbaum. Ich wachse langsam, aber beständig. Bin kein Star der Plantagenwirtschaft, sondern ein stiller Begleiter der Kulturlandschaft. Mich pflanzt man also nicht, weil ich schnell Gewinne bringe, sondern weil ich bleibe. Was mich so stark macht? Ich komme mit wenig aus. Ich wachse auf kargen, trockenen Böden, auf Hängen, an Wegrändern und in Städten.
Mein Blick zurück nach vorn
Ob im Wald, auf dem Dorf oder in der Stadt: Sie können auf mich zählen! Abgasen hate ich stand, werde nicht gleich krank, wenn es heiß wird, und brauche nicht viel Pflege. Dort, wo Hitzewellen andere Bäume zum Verzweifeln bringen, bleibe ich grün und aufrecht. Mein Laub ist licht, lässt Sonne durch und schützt den Boden dennoch vor dem Austrocknen. Ich biete Insekten Nahrung, besonders Wildbienen und Käfern, und im Herbst freuen sich Vögel über meine orange-roten Beerenfrüchte. Ich mische also mit, wenn es darum geht, als Futterquelle, Schattenspender und Strukturgeber die Vielfalt und das ökologische Gleichgewicht zu stärken –still, stetig und verlässlich. Deshalb pflanzt man mich heute besonders gerne in Städten als Allee- und Parkbaum oder als Teil grüner Inseln im Asphaltmeer. In Zeiten des Klimawandels bin ich ein Beispiel dafür, dass die Vergangenheit oft die beste Antwort auf die großen Fragen von morgen liefert. Besuchen Sie mich doch bald einmal im Lübecker Drägerpark – mit meinen silbrig-grünen Blättern, meiner luftigen Krone und den orangeroten Apfelfrüchten erkennen Sie ich sicher wieder. Und vielleicht bleiben Sie einen Moment stehen und hören mir zu. Denn auch ein leiser Baum wie ich hat viel zu erzählen.