Veröffentlicht am 19.04.2016

Lübecker Prachthandschrift von 1294 in Russland aufgespürt

Große Freude in der Fachwelt – nach russischer Gesetzeslage derzeit keine Chance auf Rückgabe

Vor rund zwei Wochen ging eine Mail der russischen Professorin Natalija Ganina beim Lübecker Stadtarchiv ein, in der sie mitteilte, dass sie zusammen mit der Kunsthistorikerin Professor Inna Mokretsova, den Bardewikschen Kodex in der russischen Kleinstadt Jurjewetz an der Wolga, zwölf Stunden Fahrt von Moskau entfernt, aufgespürt hätte.

Der sogenannte „Bardewiksche Kodex“, eine überaus wertvolle, mit ausgezeichneten Buchmalereien ausgestattete Prunkhandschrift des Lübecker Stadtrechts aus dem Jahr 1294, ist seit Ende des Zweiten Weltkriegs verschollen. Nach dem Luftangriff auf Lübeck 1942 wurden Güterwaggons mit Lübecker Archivgut in ein Bergwerk bei Bernburg an der Saale gebracht. Dort überstanden die Archivschätze zwar sicher den Krieg, aber nach 1945 wurden sie als Beutegut nach Russland verbracht. Dort ging die Handschrift des Stadtarchivs, die nach dem Lübecker Kanzler und Bürgermeister Albert von Bardewik benannt ist, gänzlich unter. Auch im damaligen Sowjetreich wusste in den letzten Jahrzehnten niemand mehr, wo sich der Bardewiksche Kodex befand und ob er überhaupt noch existierte.

Natalija Ganina, Germanistin an der Staatlichen Lomonossov-Universität Moskau, hat ihre Entdeckung jüngst auf einer deutsch-russischen Philologen-Tagung an der Phillips Universität Marburg erstmalig ausführlich einem begeisterten deutsch-russischen Fachpublikum vorgestellt. Wie der wertvolle Band in die Kleinstadt an der Wolga kam, kann auch die russische Forscherin nur ansatzweise nachvollziehen. Offenbar wurde sie in den 1970er Jahren von einem hier geborenen russischen Sammler dem örtlichen Museum übergeben, auf sehr diskretem Weg, denn von der Übergabe existieren keine Aufzeichnungen. Wie der Sammler selber in den Besitz gekommen war, ist unbekannt.

Durch Gesetz des russischen Parlaments, das so genannte „DUMA-Gesetz“ vom 15.4.1998, wurde Beutekunst zum föderalen Eigentum erklärt; eine Rückgabe an das Archiv ist damit, zumindest nach jetziger Gesetzteslage, nicht möglich beziehungsweise nicht gewollt. Allerdings hat das Stadtarchiv gute Digitalaufnahmen des wertvollen Kodex aus Russland erhalten. Die Lübecker Johann-Friedrich-Hach-Stiftung in Person von Prof. Gerhard Ahrens hat sich kurzfristig entschlossen, die Restaurierung des Bandes in Moskau mit einem namhaften Betrag zu unterstützen.

Hintergrund:

Albrecht von Bardewik, der Auftraggeber der Prunkhandschrift, war ein wohlhabender ‘Gewandschneider’ (Tuchhändler) in Lübeck. Er gehörte dem Lübecker Rat von 1291 bis zu seinem Tode (vor Dezember 1310) an. 1308 wurde er zum Bürgermeister gewählt. Er leitete auch die Ratsschreiberei in Lübeck und war offenbar ein „Büchernarr“. Neben dem Lübischen Recht – das waren die in Lübeck angewandten Rechtssätze, die als „Exportschlager“ in über 100 Städten entlang der Ostseeküste Anwendung fanden - hat er auch andere Handschriften beauftragt. Und das ließ er sich etwas kosten: Für den nun wiederentdeckten Kodex, der 99 Pergamentblätter umfasst, wurden die besten Schreiber ausgesucht und erstrangige Künstler beauftragt. Diese illustrierten die Handschrift mit Farben in Rot, Blau und Weiß in Kombination mit Gold. Die meisten Initialen im Bardewikschen Kodex fallen durch ihre Feinheit und die Akkuratesse der graphischen Gestalt und Verzierung auf.

Nach einhelliger Fachmeinung in Russland und in Deutschland handelt es sich vom Inhalt und von der Qualität der Buchmalerei her um eine „wirklich einzigartige“ mittelalterliche Handschrift.

Hinweis: Bildmaterial vom Bardewikschen Kodex von 1294 kann beim Presseamt angefordert werden. +++