Vorlage - VO/2023/11943  

Betreff: Provenienzforschung in der Völkerkundesammlung der LÜBECKER MUSEEN und Restitution von Sammlungsobjekten aus kolonialen Kontexten
Status:öffentlich  
Dezernent/in:Senatorin Monika Frank
Federführend:4.041.7 - Lübecker Museen Bearbeiter/-in: Schulenburg, Silke
Beratungsfolge:
Senat zur Senatsberatung
Ausschuss für Kultur und Denkmalpflege zur Vorberatung
09.10.2023 
3. Sitzung des Ausschusses für Kultur und Denkmalpflege unverändert beschlossen   
Hauptausschuss zur Vorberatung
14.11.2023 
5. Sitzung des Hauptausschusses unverändert beschlossen   
Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck zur Entscheidung
30.11.2023 
4. Sitzung der Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck in der Wahlperiode 2023 - 2028 unverändert beschlossen   

Beschlussvorschlag
Finanzielle Auswirkungen
Sachverhalt
Anlage/n
Anlagen:
Anlage 1_Erste_Eckpunkte_Sammlungsgut_koloniale_Kontexte
Anlage 2_Flussdiagramm_Restitutionsverfahren
Anlage 3_Entwurf_Zusatzvereinbarung_Vertrag1934_HL_Gemeinnützige

Beschlussvorschlag

 

  1. Die Bürgerschaft der Hansestadt Lübeck bekennt sich zu der im »Museumsentwicklungsplan 2020 2030« (VO/2020/09097) formulierten Verantwortung, die Herkunft von Objekten (Provenienz) in der Völkerkundesammlung der LÜBECKER MUSEEN weiter zu erforschen und transparent zu machen, um eine intensive Aufarbeitung und dialogische Erschließung des kolonialen Erbes zu ermöglichen. Sie folgt damit den Empfehlungen und Zielsetzungen der »Ersten Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten«, die am 13.03.2019 gemeinsam von der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, den Kulturminister:innen der Länder sowie den kommunalen Spitzenverbänden vereinbart wurden und somit als nationale Standards für Museen gelten (s. Anlage 1).

 

  1. Sofern die Aneignung von Sammlungsobjekten gemäß den Forschungsergebnissen und im Sinne der »Eckpunkte« nachweislich in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte, wird der Bürgermeister beauftragt, in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und dem Staatsministerium für Kultur und Medien Kontakt mit den Ursprungsgemeinschaften der Objekte sowie anderen Institutionen in den Herkunftsländern aufzunehmen, um zu klären, ob eine Rückgabe dieser Objekte gewünscht wird und um ggf. ergebnisoffene Verhandlungen über die Optionen und Verfahren einer Restitution aufzunehmen. Dies gilt insbesondere für Erwerbungen, die im Kontext von kriegerischen Handlungen, Völkermorden, durch Raub oder Betrug in den Herkunftsländern erfolgt sind, und auch, wenn diese Gegenstände erst durch Dritte, durch Schenkung oder Kauf in die Sammlung gelangten. Über die Ergebnisse der Verhandlungen ist dem Ausschuss für Kultur und Denkmalpflege zu berichten.

 

  1. Der Bürgermeister wird ermächtigt, Restitutionen sogenannter »Human Remains« (menschlicher Überreste) nach eigenem fachlichen Ermessen und sorgfältiger Dokumentation in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und dem Staatsministerium für Kultur und Medien selbständig durchzuführen, sofern dies im Einzelfall von den Herkunftsgemeinschaften gewünscht wird. Über geplante Rückführungen menschlicher Überreste ist der Ausschuss für Kultur und Denkmalpflege vorab zu informieren.

 

  1. Der Bürgermeister wird ermächtigt, Restitutionen nach eigenem fachlichen Ermessen und nach sorgfältiger Dokumentation in Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und dem Staatsministerium für Kultur und Medien selbständig durchzuführen, wenn der Wert des Einzelobjektes die in § 8 Absatz 2 Nr. 7 der Hauptsatzung der Hansestadt Lübeck festgelegten Wertgrenzen (25.000 €) nicht übersteigt. Bei Objekten mit besonderer wissenschaftlicher öffentlicher Bedeutung haben die LÜBECKER MUSEEN die vorhergehende Erfassung sicherzustellen und einen künftigen Zugang zu diesen Zwecken anzustreben. Über geplante Rückführungen ist der Ausschuss für Kultur und Denkmalpflege vorab zu informieren.

 

  1. Über Restitutionen von Objekten, die diese Wertgrenze übersteigen, entscheidet die Bürgerschaft im Einzelfall nach Darlegung der von den LÜBECKER MUSEEN erforschten Provenienz und ausgehend von einem mit dem Auswärtigen Amt und dem Staatsministerium für Kultur und Medien abgestimmten Vorschlag, wie die Restitution konkret vollzogen werden soll.

 

  1. Zur Restitution von Objekten der Völkerkundesammlung, die der Hansestadt Lübeck im Zuge des 1934 mit der »Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit« abgeschlossenen Vertrages übereignet wurden, wird mit der Gesellschaft eine Zusatzvereinbarung geschlossen, die das Verfahren zur Beteiligung der Gemeinnützigen im Entscheidungsprozess regelt. Die zwischen der Hansestadt Lübeck und der Gemeinnützigen abgestimmte Vereinbarung ist Bestandteil dieses Beschlusses (Anlage 3).

 

  1. ckgabeverpflichtungen der LÜBECKER MUSEEN als öffentliche Einrichtung aufgrund höherrangigen Rechts bleiben von diesem Beschluss unberührt.

 

 


Verfahren

 

Bereiche/Projektgruppen

Ergebnis

1.300 Recht

keine rechtlichen Bedenken

1.201 Haushalt und Steuerung

Zustimmung

 

 

 

 

 

 

 

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen

 

Ja

gem. § 47 f GO ist erfolgt:

X

Nein- Begründung:

 

Kinder und Jugendliche sind von dem Grundsatzbeschluss zum Restitutionsverfahren nicht unmittelbar betroffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Maßnahme ist:

 

neu

 

X

freiwillig

 

 

vorgeschrieben durch: 

 

 

 

 

 

 

Finanzielle Auswirkungen:

 

Ja

 

X

Nein

 

Auswirkung auf den Klimaschutz:

X

Nein

 

 

Ja Begründung:

 

 

 

 

 

 

Begründung der Nichtöffentlichkeit

gem. § 35 GO:

 

 

 

 


Begründung

 

Zielsetzung: Dekolonisierung und Neupositionierung der ethnologischen Museen

In den letzten Jahren hat sich u.a. bedingt durch die Debatte um das Berliner Humboldt-Forum und koloniales Raubgut eine kontroverse Debatte um die Zukunft ethnologischer Museen in Deutschland entwickelt. Standen früher primär ästhetische Objektpräsentationen und die Vermittlung von Wissen über uns fremde Kultur durch deutsche Kurator:innen an ein deutsches Publikum im Zentrum, liegen heute weitere Schwerpunkte auf der Zusammenarbeit und dem Dialog mit den Herkunftsländern sowie der Aufklärung über den historischen Kontext, in dem diese Objekte gesammelt wurden.

Die LÜBECKER MUSEEN bekennen sich zu der Verantwortung, die Sammlungsbestände der Völkerkunde nach den ICOM-Richtlinien zu bewahren, zu vermitteln und zu erforschen. Zu den Sammlungen der Völkerkundehlen Konvolute aus allen Weltkulturen und auch aus dem Bereich der europäischen Ethnologie. Die Hansestadt Lübeck folgt damit den Empfehlungen der Staatsministerin des Bundes für Kultur und Medien, der Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, den Kulturminister:innen der Länder sowie den kommunalen Spitzenverbänden, die sich im März 2019 in »Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten« auf Handlungsfelder und Ziele beim Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten verständigt und am 16. Oktober 2019 die Einrichtung der »Kontaktstelle für Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Deutschland« auf den Weg gebracht haben. 

In dem »Eckpunkte«-Dokument wird von den Einrichtungen, die Kulturgut aus kolonialem Kontext besitzen, insbesondere die Bereitschaft gefordert, die Aufarbeitung der Herkunftsgeschichte des Sammlungsguts aktiv zu betreiben. Unter Punkt 7 der Vereinbarung werden die »ethisch-moralische [...] Verpflichtung« und die »wichtige politische Aufgabe« betont, »Kulturgüter aus kolonialen Kontexten zu identifizieren, deren Aneignung in rechtlich und/oder ethisch heute nicht mehr vertretbarer Weise erfolgte, und deren Rückführung zu ermöglichen«. Zudem seien »menschliche Überreste aus kolonialen Kontexten [...] zurückzuführen« (s. Anlage 1).

 

 

Wichtige Voraussetzungen: Forschung, Kooperation und Transparenz

Die (Provenienz-) Forschung an den eigenen Sammlungen ist eine Kernaufgabe der Museen, die jedoch aufgrund mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen fast ausschließlich über Drittmittel finanziert werden muss. Ein wichtiger Partner für die Erforschung der Provenienz von Objekten der LÜBECKER MUSEEN aus der Zeit des Kolonialismus und Nationalsozialismus ist daher das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK), das in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Kulturwissenschaftliche Forschung Lübeck (ZKFL) bereits einige Forschungsprojekte der LÜBECKER MUSEEN gefördert hat. In der Völkerkundesammlung konnten 2020 und 2021 mit der Sammlung der Lübecker Pangwe-Expedition (1907-1909) sowie Objekten und sterblichen Überresten aus dem Umfeld des Völkermordes an den Herero und Nama (1904-1908) zwei als besonders belastet geltende Bestände umfassend erforscht werden. Ein weiteres von 2022 bis 2024 laufendes Forschungsprojekt widmet sich den sterblichen Überresten von ca. 25 Personen im Bestand der Völkerkundesammlung. Neben der Erforschung der Herkunft dieser Überreste und ihrer Wege nach Lübeck hat das Projekt auch eine Kontaktaufnahme mit Nachfahren und anderen Institutionen in den Herkunftsländern zum Ziel, um die dortigen Vorstellungen und Bedürfnisse hinsichtlich des zukünftigen Umgangs mit diesen Gebeinen zu ermitteln. Es ist davon auszugehen, dass für einzelne aus historischen Unrechtskontexten stammende Schädel in Kürze Rückgabeforderungen an die Hansestadt Lübeck gerichtet werden.

Grundlage für einen internationalen Austausch und für mehr Transparenz sind die Digitalisierung und Online-Stellung der Sammlungsbestände. Mit der digitalen Erfassung der kompletten historischen Sammlungsbestände der Völkerkundesammlung von 2012 bis 2016 und einer aktuellen intensiven Erforschung der bisher unbeachteten Lübecker Kolonialgeschichte verfügt die Völkerkundesammlung über eine sehr gute Basis, um die neuen an sie gestellten Herausforderungen zu bewältigen. Gleichwohl wird eine umfassende Erforschung dieser Bestände noch viele Jahre in Anspruch nehmen.

Grundvoraussetzung für einen Dialog auf Augenhöhe mit den Herkunftsgemeinschaften ist Transparenz. Neben den bestehenden Inventardatenbanken sollen schrittweise alle vorhandenen Informationen und Bilddaten der Objekte in einem Online-Katalog der Lübecker Museen den Menschen in den Herkunftsländern zukünftig den Zugang ermöglichen, wobei Daten einschließlich der Abbildungen nach der Creative Common Licence zur Verfügung gestellt werden.

Auch die digitale Erfassung der Völkerkunde-Bestände wurde bislang über Drittmittel finanziert. Gleichwohl die LÜBECKER MUSEEN mit dem Ausbau ihrer Digitalen Stabstelle bereits wichtige Voraussetzungen für ihre digitale Transformation geschaffen haben, wird die Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen auch zukünftig von Drittmitteln abhängig sein.  

 

 

Rechtliche Situation

Da die nationalen Regelungen des Kulturgutschutzgesetzes nicht auf Kulturgüter anwendbar sind, die während der Kolonialzeit verbracht worden sind, gibt es keine spezifischen Anspruchsgrundlagen im nationalen Recht oder im Völkerrecht, die einen Herausgabeanspruch der Nachfahren aus ehemaligen kolonialen Gebieten gegen die jetzigen Kulturgutbesitzer in Deutschland begründen.

Eventuelle Eigentumsübertragungen oder physische Rückführungen von Objekten erfolgen somit auf der in den »Eckpunkten« geforderten ethisch-moralischen Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und Kommunen. Um ihre Aufgaben im Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erfüllen zu können, sind Museen darauf angewiesen, dass Gesellschaft und Politik ihr Handeln einvernehmlich an den politisch vereinbarten moralischen Prinzipien ausrichten. Diese Entscheidungen begründen zugleich den Ruf und das wissenschaftliche Ansehen der Museen im nationalen und internationalen Kontext.

Unabhängig von der rechtlichen Bewertung eines Herausgabeanspruches ist auch das Herausgaberecht der Museen zu betrachten: Gemäß Hauptsatzung der Hansestadt Lübeck entscheidet derrgermeister über die »unentgeltliche Veräerung von Sachen, Forderungen und anderen Rechten bei einem Wert bis zu 25.000 Euro«. Bei Objekten, die diesen Wert übersteigen, entscheidet die Bürgerschaft.

Bei Objekten, deren Eingang in die Sammlung mit Schenkungs- oder sonstigen Überlassungsverträgen geregelt wurde, sind zudem die Vertragsbedingungen zu prüfen und ggf. die Vertragspartner über die Forschungsergebnisse und das geplante Vorgehen gem. den »Eckpunkte«-Forderungen zu informieren beziehungsweise um Genehmigung einer möglichen Rückgabe zu ersuchen.

 

 

Vereinbarung mit der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit

Einen solchen Veräerungsvertrag hat die Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit 1934 mit der »Stadtgemeinde Lübeck« geschlossen. Da sich die Bedingungen und Zielsetzungen des musealen Sammelns, insbesondere in Bezug auf die Frage der Provenienz von Objekten seit 1934 gewandelt haben und die Restitutionsfrage in dem Vertrag folglich noch nicht berücksichtigt wurde, soll mit der Gemeinnützigen eine ergänzende schriftliche Vereinbarung geschlossen werden, die eine Beteiligung der Gesellschaft im Entscheidungsverfahren bei Restitutionen regelt, ohne die Hoheit der Bürgerschaft über die Forschungs- und Sammlungspraxis der LÜBECKER MUSEEN einzuschränken (Anlage 3). 

Das mit der Gemeinnützigen abgestimmte Verfahren sieht vor, dass die Gemeinnützige bei Restitutionsvorhaben von Objekten aus kolonialen Kontexten, die Gegenstand des Vertrags von 1934 sind, beteiligt wird und eine Stellungnahme abgibt. Sofern das Verfahren einen Beschluss durch die Bürgerschaft vorsieht, wird die Stellungnahme der Gemeinnützigen der Beschlussvorlage zur Entscheidung durch die Bürgerschaft beigegt. In Zweifelsfällen wird die Gemeinnützige ihre Rückfragen an die LÜBECKER MUSEEN richten. Sollten nicht alle Fragen geklärt werden können und sollte Dissens über das Forschungsergebnis bestehen, bestimmen die LÜBECKER MUSEEN und die Gemeinnützige einvernehmlich zwei Gutachter:innen, die hauptamtlich in ethnologischen Sammlungen oder Forschungsinstituten tätig sind und die das Ergebnis der Provenienzforschung der LÜBECKER MUSEEN überprüfen. Sofern das Verfahren eine Beschlussfassung durch die Bürgerschaft vorsieht (s. Beschlussvorschlag sowie Anlage 2: Flussdiagramm), werden auch die Expertisen der Beschlussvorlage angehängt.

Der Entwurf der Zusatzvereinbarung ist mit der Gemeinnützigen abgestimmt.

 

 

Finanzielle Aspekte

Die Objekte der Völkerkundesammlung sind überwiegend als Schenkungen in die Sammlung gelangt. Den Vermögenswerten der Objekte stehen somit Sonderposten bzw. Sonderrücklagen in gleicher Höhe gegenüber. Rückgaben würden daher eine Reduzierung auf beiden Bilanzseiten zur Folge haben und im Endeffekt haushalttechnisch ergebnisneutral umgesetzt werden. Der Haushalt der Hansestadt Lübeck würde durch Rückgaben folglich nicht belastet.

Die finanziellen Auswirkungen einer Rückgabe werden im Einzelfall in der hierzu einzubringenden Beschlussvorlage konkret geklärt und dargestellt.


 


Anlagen

Anlage 1: Erste_Eckpunkte_Sammlungsgut_koloniale_Kontexte

Anlage 2: Flussdiagramm_Restitutionsverfahren

Anlage 3: Entwurf_Zusatzvereinbarung_Vertrag1934_HL_Gemeinnützige

Anlagen:  
  Nr. Status Name    
Anlage 1 1 öffentlich Anlage 1_Erste_Eckpunkte_Sammlungsgut_koloniale_Kontexte (176 KB)    
Anlage 2 2 öffentlich Anlage 2_Flussdiagramm_Restitutionsverfahren (501 KB)    
Anlage 3 3 öffentlich Anlage 3_Entwurf_Zusatzvereinbarung_Vertrag1934_HL_Gemeinnützige (444 KB)