- Wie und bis wann wird sichergestellt, dass die Ferienbetreuung im Rahmen des schulischen Ganztags für Kinder mit Behinderung in Lübeck – entsprechend § 3 der Kooperationsvereinbarung zwischen der Hansestadt Lübeck, den Schulen und den jeweiligen Trägern – als Teilhabeleistung zur Bildung nach § 112 SGB IX und nicht als Leistung der sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX anerkannt und bewilligt wird, sodass eine gesonderte Antragstellung mit Einkommens- und Vermögensprüfung für die Ferienzeiten des Ganztags an Schule entfällt und betroffene Kinder und Familien nicht länger benachteiligt werden, und der damit verbundene Verstoß gegen die UN-Behindertenrechtskonvention beendet wird?
Die Ferienbetreuung im Rahmen des schulischen Ganztags für Kinder mit Behinderung steht grundsätzlich allen Lübecker Kindern zur Verfügung; sofern Kinder aufgrund ihres behinderungsbedingten Bedarfs Assistenzleistungen zur Nutzung dieses Angebotes benötigen, wird diese Leistung in der Hansestadt Lübeck auf Antrag als Leistung der sozialen Teilhabe gemäß § 113 SGB IX geprüft.
Anders als Assistenzleistungen während der Schulzeit – in der eine Unterstützung zumeist als Leistung zur Teilhabe an Bildung (§ 112 SGB IX) anerkannt werden kann – ist die Ferienbetreuung nach derzeitiger Rechtslage einkommens- und vermögensabhängig. Dies führt dazu, dass betroffene Familien während der Ferienzeiten eine gesonderte Antragstellung vornehmen müssen.
Formulierung in der Kooperationsvereinbarung
Die Kooperationsvereinbarungen zum schulischen Ganztag in Lübeck, welche sowohl die Nachmittags- als auch die Ferienbetreuung zum Inhalt haben, enthalten in § 3 die Formulierung, dass „die Betreuungsangebote während der Ferienzeiten Bestandteil des pädagogischen Konzepts der Schule bzw. des Schulprogramms“ sind und damit den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule erfüllen.
Diese Formulierung wurde seinerzeit auf Anforderung der Unfallkasse Schleswig-Holstein aufgenommen. Ziel war es, die Ferienangebote in den schulischen Kontext einzubetten – insbesondere mit Blick auf den Unfallversicherungsschutz. Die Passage wurde jedoch nicht mit Blick auf eine sozialrechtliche Einordnung formuliert.
Bewertung durch den Bereich Recht der Hansestadt Lübeck und das zuständige Landesministerium Schleswig-Holstein
Auf Nachfrage stellte der Bereich Recht der Hansestadt Lübeck klar, dass ein Anspruch nach § 112 SGB IX grundsätzlich nur dann bestehen kann, wenn das konkrete Ferienangebot inhaltlich den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule aufgreift und an den unterrichtlichen Kontext anknüpft. Wird stattdessen vorrangig ein Freizeit- oder Betreuungsangebot durchgeführt, ist es als Leistung der sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX zu werten – auch dann, wenn es räumlich an die Schule angebunden ist oder sich auf eine Kooperationsvereinbarung stützt.
Auch das Land Schleswig-Holstein, das für die Leistungen der Eingliederungshilfe der Hansestadt Lübeck kostenerstattungspflichtig ist und die Fachaufsicht zu erfüllen hat, teilt diese Einschätzung. Das zuständige Ministerium führt auf Nachfrage u.a. aus:
„Leistungen zur Teilhabe an Bildung gemäß § 112 SGB IX setzen voraus, dass sie unmittelbar mit dem schulischen Bildungsauftrag und damit mit dem stundenplanmäßigen Unterricht verknüpft sind. In den Schulferien ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, da in diesem Zeitraum kein Unterricht stattfindet. Die Ferienbetreuung dient vielmehr der Unterstützung sozialer Kontakte, der gemeinschaftlichen Integration sowie der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Diese Zielrichtung ist dem Bereich der sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX zuzuordnen.“
Abwägung und Ausblick
Ungeachtet der rechtlichen Bewertung ist die vorgetragene Kritik an den unterschiedlichen Teilhabevoraussetzungen von Kindern mit und ohne Behinderung in der Ferienzeit nachvollziehbar; während das grundsätzliche Ferienangebot für alle Kinder gleich ist, ist die für die Teilhabe erforderliche Assistenzkraft nur über die o.g. Antragstellung möglich.
Die aktuelle Rechtslage führt somit für Kinder mit Behinderung und ihre Familien zu einem faktischen Nachteil, insbesondere durch aufwendigere Antragsverfahren und einkommensabhängige Prüfungen, die für andere Kinder im Ganztag und in den Ferien ohne Assistenzkraft nicht erforderlich sind.
Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass Ferienzeiten bewusst als unterrichtsfreie Zeiträume ausgestaltet sind – auch mit dem Ziel, Kindern Erholung, Selbstbestimmung und Abwechslung vom schulischen Alltag zu ermöglichen. Eine zu weitgehende „Pädagogisierung“ oder formale Bildungspflicht auch in der Ferienzeit beeinträchtigt freizeitpädagogische Ansätze, die Kinder in sozialen Kompetenzen und Lernerfahrungen über den Unterrichtskontext hinaus fördern.
Unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtslage ist insofern im Einzelfall zu prüfen, ob das Ferienangebot tatsächlich Bildungscharakter im Sinne des § 112 SGB IX hat. Nicht jedes strukturierte Ferienangebot im schulischen Rahmen erfüllt automatisch die Voraussetzungen einer formalen Bildungsleistung, auch wenn es im Rahmen der Kooperationsvereinbarung als Bestandteil des pädagogischen Konzepts der Schule einzuordnen ist.
Zukünftige Perspektive: inklusives Kinder- und Jugendhilferecht (IKJHG)
Der Bereich Familienhilfen / Jugendamt verfolgt das Ziel, benachteiligende Auswirkungen für Familien mit Kindern mit Behinderung zu vermeiden und gleichzeitig eine rechtssichere Leistungsgewährung sicherzustellen. Eine kurzfristige Änderung der Leistungsbewertung auf Grundlage der bestehenden Kooperationsvereinbarung ist jedoch rechtlich nicht möglich.
Zukünftig ist zu erwarten, dass sich im Rahmen der bundesrechtlichen Weiterentwicklung des SGB VIII – insbesondere durch die Umsetzung des inklusiven Kinder- und Jugendhilferechts (IKJHG) gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII – klare und diskriminierungsfreie Zuständigkeiten und Leistungspflichten entwickeln. Ziel ist es, Leistungen für Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam, aus einer Hand und bedarfsgerecht erbringen zu können – auch im schulischen Ganztag und über die Ferienzeit hinweg.
Zusammenfassend
- Die Formulierung im Kooperationsvertrag (§ 3) ist versicherungsrechtlich einzuordnen und begründet keine automatische Anerkennung als Bildungsleistung.
- Eine Einordnung nach § 112 SGB IX ist nur dann möglich, wenn das jeweilige Ferienangebot inhaltlich konkret am Bildungsauftrag der Schule anknüpft.
- Das erstattungspflichtige Land Schleswig-Holstein, welches die Fachaufsicht zu erfüllen hat, sieht die Ferienbetreuung grundsätzlich als Leistung der sozialen Teilhabe nach § 113 SGB IX.
- Eine generelle Anerkennung als Bildungsleistung ist derzeit nicht rechtssicher umsetzbar, aber Einzelfallprüfungen auf Grundlage pädagogischer Konzepte sind möglich.
- Perspektivisch bietet das kommende inklusive Kinder- und Jugendhilferecht auf Bundesebene die Chance, strukturelle Benachteiligungen abzubauen und die Trennung zwischen schulischer und außerschulischer Leistungserbringung zu überwinden.