Der Kerckring-Altar in der Sammlung des St. Annen-Museums
Der Altar wurde 1520 von Jacob van Utrecht im Auftrag des Lübecker Ratsherrn Hinrich Kerckring gemalt. Hinrich Kerckring war Mitglied der vornehmen Zirkelbruderschaft, 1518 wurde er zum Ratsherrn ernannt und nahm das Amt des Wetteherrn wahr, d.h. ihm oblag die Gewerbegerichtsbarkeit. In der unruhigen Zeit, in der Jürgen Wullenwever die Stadt beherrschte, spielte er als sein Kontrahent eine wichtige politische Rolle. Kerckrings Ehefrau Katharina war Tochter des Bürgermeisters Hinrich Joris. Die Wappen beider Eheleute und die ihrer Eltern sind auf den Flügeln des Altars über ihren Köpfen angeordnet: über Hinrich die Wappen der Familien Kerckring und Castorp, über Katharina die der Familien Joris und Grambeke. Das Retabel hat für die Stadt Lübeck eine große kunst- und kulturhistorische Bedeutung, da es sich explizit auf die Stadtgeschichte und die Geschichte prominenter Lübecker Patrizierfamilien bezieht. Es ist davon auszugehen, dass das Retabel für einen Aufstellungsort in Lübeck hergestellt worden ist.
Zur Geschichte des Kerckring-Retabels von Jacob van Utrecht
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war das Altarretabel Teil der Gemäldesammlung des Rigaer Bürgers und Kaufmanns Friedrich Wilhelm Brederlo. In seinem Testament von 1852 verfügte er gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna Juliana Brederlo, dass ihre Kunstsammlung in Familienbesitz bleiben soll. Lediglich, wenn die Nachfahren der Familie Brederlo sich nicht mehr um die Sammlung kümmern könnten oder wollten, sollte diese der Stadt Riga überlassen werden, sofern die Stadt geeignete Ausstellungsräume zur Verfügung stelle. Andernfalls konnte die Sammlung von den Erben verkauft werden.
Nach dem Tod Brederlos im Jahr 1862 trat sein Schwiegersohn Wilhelm von Sengbusch (1802-1880) das Erbe der Brederloschen Kunstsammlung an. Nach Auskunft der Familie schloss dessen ältester Enkel, Oskar Wilhelm von Sengbusch (1866-1919), 1906 mit der Stadt Riga einen Leihvertrag: Die umfangreiche Kunstsammlung (rund 200 Objekte) wurde fortan im Neuen Kunstmuseum der Stadt Riga, dem heutigen Lettischen Nationalen Kunstmuseum, gezeigt.
1939/40 wurde die Familie von Sengbusch nach der Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion nach Posen umgesiedelt und durfte nur sieben Gemälde aus ihrer umfangreichen Sammlung mitnehmen. In einem Dekret verkündet Staatspräsident Ulmanis 1940 ein Gesetz, das durch die Änderung des Testaments von F. W. und A. J. Brederlo der Stadt Riga »das unbeschränkte Verfügungsrecht über die in ihrem Eigentum befindliche Brederlo Gemäldesammlung« zugesteht.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1941 wurde Hugo Wittrock Gebietskommissar und kommissarischer Oberbürgermeister von Riga. Er »schenkte« den Kerckring-Altar der Hansestadt Lübeck 1942 als Zeichen der Anteilnahme für die Kriegszerstörungen in Lübeck durch den Bombenangriff 1942. Der Altar kam in das St. Annen-Museum und ist seitdem dort öffentlich ausgestellt.
1965 entdeckte die Familie von Sengbusch den Altar im St. Annen-Museum. Sie meldete Eigentumsansprüche an, war aber bereit, dem Museum den Altar als Leihgabe zur Verfügung zu stellen. Die zwischen 1966 und 1969 hierzu geführten Verhandlungen zwischen der Familie und der Hansestadt Lübeck blieben ergebnislos, da die Hansestadt Lübeck aufgrund der ungeklärten Rechtslage zu den Eigentumsverhältnissen der Jahre 1939 bis 1943 Vereinbarungen mit der Familie von Sengbusch zunächst ablehnte. Hierzu hatte im März 1968 auch eine Besprechung mit dem Auswärtigen Amt in Bonn stattgefunden, das zum damaligen Zeitpunkt – so der Protokollvermerk des Rechtsamtes - »keine Veranlassung [sah], die Hansestadt Lübeck dazu zu bewegen, von sich aus den Kunstgegenstand zurück zu geben.«
1988 kam es zu erneuten Kontakten zwischen der Erbengemeinschaft von Sengbusch und der Hansestadt Lübeck. Die Angelegenheit wurde inhaltlich und rechtlich noch einmal bewertet und in den politischen Gremien beraten; dies führte 1992 schließlich zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen der Erbengemeinschaft und der Hansestadt Lübeck, mit der die Stadt das Eigentumsrecht der Familie an dem Altarretabel – auch aus »moralischen Gründen« – anerkannte. Im Gegenzug stiftete die Familie den Kerckring-Alter dem Museum.
1995 kamen erneut öffentliche Debatten um die Sammlung auf. Nach einem Treffen der Direktorin des Rigaer Museums, Daiga Upeniece, mit dem Erben Werner Sengbusch am 26.10.1995 protokolliert dieser: »Von Seiten des Museums wird einhellig der Standpunkt vertreten, dass das Museum die Brederlo’sche Gemäldesammlung verwaltet und Eigentümer die Erben von Sengbusch sind«. In einem Brief vom 30.10.1995 bedankt sich Sengbusch ausdrücklich bei Daiga Upeniece dafür, dass »bisher vertreten[d)e Ansprüche der Stadt Riga an der Sammlung fallengelassen werden.«
Bei einem weiteren Treffen im Dezember 1995 in Riga, an dem der Staatssekretär des lettischen Kulturministeriums, eine Vertreterin der Deutschen Botschaft in Riga, Werner und Kurt von Sengbusch sowie – als Vertreter:innen der Hansestadt Lübeck - Kultursenator Ulrich Meyenborg und Kulturamtsleiterin Dr. Ada Kadelbach teilnahmen, wird diese Haltung offenbar bestätigt. U.a. wird auch die Erneuerung des Leihvertrags mit der Stadt Riga über die Gemäldesammlung thematisiert (Gesprächsvermerk Ada Kadelbachs, 12.12.1995).
Ulrich Meyenborg bot zudem an, den Kerckring-Altar für eine Ausstellung anlässlich des 800-jährigen Stadtjubiläums nach Riga zu entleihen. Der Altar reiste vom 28.5/2.6.2001 bis zum 22.1.2002 nach Riga und kam mit klimatisch bedingten Schäden, die danach restauriert wurden, zurück.
2019 fand im St. Annen-Museum die Ausstellung »Der Herkunft auf der Spur« statt, die die Umstände der Museumserwerbungen und Geschenke während der NS-Zeit beleuchtet. Der Kerckring-Altar war Teil der Ausstellung.
Aktuelle Situation
Im September 2023 erhalten die LÜBECKER MUSEEN ein Schreiben des Lettischen Kulturministeriums (in Kopie an den Bürgermeister der Hansestadt Lübeck sowie an die Deutsche Botschaft in Riga), mit dem Lettland die Restitution des Altars ersucht. Das Ministerium beruft sich dabei auf das Testament Friedrich Wilhelm Brederlos, nach dem die Sammlung als Ganzes in Riga erhalten bleiben soll und argumentiert, dass es sich bei der Übergabe der Sammlung 1906 nicht um eine Leihgabe, sondern um eine Eigentumsübertragung gehandelt habe.
Der Bürgermeister antwortet im November 2023 mit einem Schreiben, das auf die Komplexität der Eigentumsverhältnisse verweist und eine ausführlichere Antwort Anfang 2024 – nach umfangreicher Prüfung der in der Hansestadt Lübeck vorhandenen Akten zu diesem Vorgang – ankündigt.
In dem im April 2024 versandten Schreiben an das lettische Ministerium teilt die Hansestadt Lübeck ihre Rechtsauffassung mit, dass sich der Altar im Eigentum der Hansestadt Lübeck befindet und fügt dem Schreiben diverse Anlagen bei (u.a. das Vertragsdokument zwischen der Familie Sengbusch und der Hansestadt Lübeck von 1992, die Übersetzung des »Dekretes« von Staatspräsident Ulmanis von 1940, das Schreiben der Erbengemeinschaft an die Museumsdirektorin Daiga Upeniece in Riga von 1995, das Protokoll des Gesprächs in Riga im Dezember 1995).
Im August 2024 geht ein weiteres Schreiben des Lettischen Kulturministeriums beim Bürgermeister ein, das sich auf internationales Recht beruft, nach dem die »Schenkung« von 1940 als »Kriegsbeute« zu deklarieren sei, und deutlich macht, dass Lettland die Eigentumsrechte der Familie von Sengbusch an der Sammlung nicht anerkennt, da es sich 1906 nicht um eine Leihgabe, sondern eine Eigentumsübertragung an das Rigaer Museum gehandelt habe. Folglich könne auch die Vereinbarung zwischen der Hansestadt Lübeck und der Familie von Sengbusch nicht als Restitutionsmaßnahme gelten. Die Familie sei 1939 außerdem nicht zwangsweise vertrieben worden, vielmehr habe es sich um eine freiwillige Umsiedlung gehandelt. Dem damaligen Antrag der Familie, die Sammlung nach Deutschland auszuführen, sei schon damals mit Gutachten widersprochen worden, welche die Gemäldesammlung als Eigentum der Stadt Riga auswiesen. Die Dokumente, auf die das Schreiben sich beruft, sind dem Schreiben nicht beigefügt.
Da es sich um eine Angelegenheit handelt, die nach internationalem Recht zu klären ist, informiert die Hansestadt Lübeck daraufhin das Auswärtige Amt, das Deutsche Zentrum für Kulturgutverluste in Magdeburg sowie die Kulturabteilung im Ministerium für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein über die Angelegenheit und beauftragt nach entsprechenden Rücksprachen den Fachanwalt Professor Dr. Peter Raue (Kanzlei RAUE, Berlin), den Sachverhalt juristisch zu prüfen.
Das von Professor Raue hierzu erstellte Gutachten wird als Anlage 1 beigefügt. Es kommt zu folgendem abschließenden Ergebnis:
»Die Stadt Riga kann keine Herausgabe geltend machen, weil sie
1. nie Eigentümerin des Altars gewesen ist. Insbesondere hat sie mit Oskar von Sengbusch 1905/1906 nur einen Leihvertrag geschlossen, der in eine Eigentumsübertragung nicht umgedeutet werden kann.
2. Selbst wenn man das Herausgabeverlangen auf einer meta-juristischen Ebene betrachtet – gleichsam auf dem Gedanken von treu und glauben – gibt es keinen Grund unser Ergebnis zu revidieren. Der Altar stand immer im Privateigentum der Familie Sengbusch und Riga war immer bewusst, dass die Sammlung Brederlo (einschließlich unseres Altars) nur als Leihgabe der Stadt zu Verfügung stand. Deshalb hat Riga konsequent auch Jahrzehnte keine Rückgabeforderung erhoben.«
In einem erneuten Schreiben vom 7.2.2025 an die lettische Kulturministerin hat der Bürgermeister die von der Hansestadt Lübeck vertretene Rechtsauffassung unter Beifügung des Gutachtens folglich noch einmal bekräftigt.
Eine Antwort aus Lettland steht noch aus.