Vorlage - VO/2021/10328  

Betreff: Verkehrsversuch Beckergrube - Evaluation
Status:öffentlich  
Dezernent/in:Senatorin Joanna Hagen
Federführend:5.610 - Stadtplanung und Bauordnung Beteiligt:5.660 - Stadtgrün und Verkehr
Bearbeiter/-in: Lindfeld, Julia   
Beratungsfolge:
Senat zur Senatsberatung
Bauausschuss zur Kenntnisnahme
06.09.2021 
56. Sitzung des Bauausschusses zurückgestellt   
20.09.2021 
57. Sitzung des Bauausschusses zur Kenntnis genommen / ohne Votum   

Beschlussvorschlag
Sachverhalt
Anlage/n
Anlagen:
Anlage 1_Synthesepapier der Technischen Hochschule Lübeck

Beschlussvorschlag


Mit Beschluss des Rahmenplans Innenstadt mit Mobilitätskonzept 2019 (VO/2019/07798) wurde die Verwaltung beauftragt, in einem ersten Schritt der Umsetzung einen Verkehrsversuch in der Beckergrube durchzuführen. Hiermit konnte behutsam auf die anstehenden urbanen Wandlungsprozesse hingewirkt und wichtige Erkenntnisse für eine Neugestaltung herausgearbeitet werden. Die Beckergrube übernimmt in der Umsetzung des Rahmenplans eine Schlüsselfunktion.

 

Erklärtes Ziel ist es, die Beckergrube in das besondere Bild der Lübecker Altstadt einzubinden und durch städtebauliche Impulse strukturelle Transformationsprozesse aktiv anzugehen. Es sollen klimaneutrale und öffentliche Verkehre eine gestärkte Infrastruktur erhalten und der Stadtraum mit seinen vielfältigen Funktionen erlebbar gemacht werden.

 

Im Rahmen des Verkehrsversuchs wurden die obere Beckergrube und die Breite Straße zwischen Beckergrube und Koberg auf berechtigte Verkehre, wie z.B. Bewohner, Bus- und Lieferverkehre, beschränkt und als verkehrsberuhigter Geschäftsbereich mit Tempo 20 ausgewiesen. Im Zuge von provisorischen Straßenumbaumaßnahmen erfolgte die Reduzierung der überdimensionierten Verkehrsfläche, sowie die Verlagerung und barrierefreie Ausbildung der Haltestellen des Stadtverkehrs. Die baulichen Maßnahmen wurden flankiert durch eine temporäre blierung (u.a. Sitzmöbel, Baumstandorte in Kübeln, Fahrradabstellmöglichkeiten) und eine Containerausstellung, welche über das Projekt informiert. Die Maßnahmen, die mit den verkehrs- und baupolitischen Sprecher:innen abgestimmt wurden, sind mit geringem Mitteleinsatz umgesetzt worden, um mit Blick auf eine nachhaltige Neugestaltung „Interpretationsspielräume“ zu erhalten. Die provisorische bauliche Umgestaltung der Verkehrsanlage einschließlich der Haltestellen erfolgte mit einem Zielhorizont von ca. drei Jahren. Die temporäre Möblierung ist an anderen Stellen im Stadtgebiet weiter verwendbar.

 

Der Verkehrsversuch, ursprünglich für ein Jahr angelegt, startete am 11. Mai 2020 und wird, begründet durch die Covid-19-Pandemie auf das gesamte Jahr 2021 ausgeweitet. So können weitere Erkenntnisse bei Veranstaltungen, wie dem Weihnachtsmarkt, und die Abwicklung der Verkehre bei Theateraufführungen gewonnen werden.

 

Um den Verkehrsversuch beurteilen zu können wurden u.a. Datenanalysen und Verkehrserfassungen vorgenommen, sowie Raumbeobachtungen durchgeführt. Weiter fanden durch die Technische Hochschule Lübeck Interviewserien mit Bewohner:innen, publikumsbezogenen Nutzungen (Einzelhandel, Gastronomie etc.) und Eigentümer:innen statt.

 

Im Juni 2021 wurden an den Standorten Beckergrube/nfhausen, Theater und Koberg/nigstraße der Kfz-Verkehr, der Radverkehr und Fußnger:innen gezählt. Die Ergebnisse können mit Zahlen aus Erhebungen vom September 2020, September 2019 und Juni 2016 in einen Vergleich gesetzt werden. Pandemiebedingt war in den Winter- und Frühlingsmonaten weniger Verkehr in der Gesamtstadt. Im September 2020 und Juni 2021 herrschte vergleichsweise „Normalbetrieb“ in der Innenstadt.

 

Im September 2020 wurden mit Bluetooth-Technologie Daten zur Ermittlung der Verkehrsbeziehungen in der Altstadt und an relevanten Knotenpunkten automatisiert erhoben. Dies war der erste Einsatz einer solchen Technologie in der Hansestadt Lübeck. Im Juli 2021 wurden, ergänzend mit Laserfrequenzgeräten an den Gebäuden Beckergrube 18 und Beckergrube 29, Fußngerbewegungen erfasst.

 

Weiter wurden zur Einhaltung der neuen geänderten Verkehrsregelung regelmäßig Verkehrskontrollen durch die Polizei und den Ordnungsdienst im gleichen Maße wie anderswo in der Altstadt durchgeführt.

 

Ergänzende Hinweise geben Raumbeobachtungen und Anregungen von den in der Beckergrube aktiven Akteuren (u.a. Tanzgruppen, Musiker:innen, Urban Gardening-Projekt). Ebenfalls sind Rückmeldungen aus der Bevölkerung an die Projektadresse beckergrube@
luebeck.de als auch die Projektleitung und an das Lübeck Management in den vorliegenden Bericht eingeflossen. Auch haben der Stadtverkehr Lübeck und das Taxigewerbe, sowie der Parkhausbetreiber im Wehdehof Rückmeldungen zu ihren Erfahrungen abgegeben.


 


Begründung


Der Start des Verkehrsversuchs am 11. Mai 2020 wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie und des damit verbundenen Lockdowns eingeschränkt wahrgenommen. Im Mai 2020 war ein reduziertes Verkehrsaufkommen in der Gesamtstadt zu verzeichnen.

 

Mobilitätsverhalten

Die Verkehrsregelung in Richtung Burgtor, am Knotenpunkt Beckergrube/Fünfhausen, wird laut Verkehrskontrollen überwiegend bis umfassend eingehalten. Die klare Beschilderung und die Rechtsabbiegespur tragen hierzu ebenso bei, wie das umfangreiche Parkangebot im direkt angrenzenden Parkhaus Wehdehof. Am Burgtor wird das Durchfahrtverbotsschild erkannt und die überwiegende Anzahl der nicht durchfahrtsberechtigten Fahrzeuge biegt rechts in die Fährstraße ab. Beobachten lässt sich, dass insbesondere Autos mit auswärtigem Kennzeichen entgegen der Ausschilderung geradeaus fahren, was auf eine fehlende Aktualisierung der Navigationssoftware schließen lässt. Durch ein nachträgliches Anbringen eines zusätzlichen Durchfahrtverbotsschilds, zeigt sich die Situation am Koberg mit dem Rechtsfahrgebot klarer.

 

Der Kfz-Verkehr in der Beckergrube zählte vor dem Verkehrsversuch ca. 6.900 Kfz/Tag (2016) und bestand zur Hälfte aus Durchgangsverkehren Verkehre, die kein Ziel in der Altstadt, bzw. im Bereich Beckergrube haben. Die anderen 50% waren Anwohner, Lieferverkehre, Linien- und Busverkehre, Schwerbehindertenverkehre, Taxen und Mietwagen. Diese etwa 3.500 Kfz/Tag sind im Verkehrsversuch weiterhin berechtigte Verkehrsteilnehmer:innen, und dürfen die Beckergrube und Breite Straße weiterhin befahren. Hierbei bildet der Stadtverkehr mit ca. 450 Fahrten/Tag einen beachtlichen Anteil.

 

Die Verkehrserhebungen zeigen im Juni 2021 insgesamt ca. 3.000 Kfz/Tag und im September 2020 ca. 2.800 Kfz/Tag. Im Vergleich zu den Erhebungen 2016, mit rund 6.900 erfassten Kfz/Tag, bestätigt sich, dass allein mit der durchgeführten Beschränkung eine erkennbare Reduzierung des Verkehrsaufkommens möglich wird. Die Relation Koberg nfhausen bleibt mit gezählten 2.240 Kfz/Tag (2016: ca. 4.700 Kfz/Tag) weiterhin stärker ausgeprägt als die Gegenrichtung mit rund 570 Kfz/Tag (2016: 2.300 Kfz/Tag). Der Verkehr am Koberg hat ferner abgenommen, da das Linksabbiegen von der Königstraße in Richtung Breite Straße beschränkt worden ist.

 

 

Obere Beckergrube zwischen Breite Straße und Fünfhausen DTV

Jahr der Erhebung

Kfz

SV-Anteil

Rad

Bemerkungen

2016

6.903

660

1.927

Vor dem Verkehrsversuch

2020

2.812

611

2.183

Verkehrsversuch Beckergrube

2021

3.049

576

2.421

Verkehrsversuch Beckergrube

 

 

nigstraße/Koberg DTV

Jahr der

Erhebung

Kfz

SV-Anteil

Bemerkung

2019

8.316

979

Vor dem Verkehrsversuch

2020

4.522

791

Verkehrsversuch Beckergrube

2021

4.761

780

Verkehrsversuch Beckergrube

 

Bei einer auf Bluetooth-Technologie basierten Erfassung im September 2020 wurden Verkehrsströme in und um den Verkehrsversuch analysiert. Hierbei konnte sowohl in den direkt angrenzenden Bereichen, als auch in der gesamten Altstadt keine signifikant erhöhte Verkehrsbelastung festgestellt werden. Die Befürchtung einer vermehrten Nutzung der Verkehrsbeziehung Mühlenstraße nigstraße Beckergrube hat sich nicht bestätigt. Vereinzelt zeigten sich in den Rippenstraßen Fischergrube und Engelsgrube ausweichende Verkehre.

 

Der Fahrradverkehr hat in der Beckergrube um 20 bis 30% zugenommen, was u.a. an der hohen Nachfrage an Fahrradabstellmöglichkeiten ablesbar ist und auf die spürbar verbesserte Verkehrssituation für Fahrradfahrer:innen zurückzuführen sein dürfte. Hiermit konnte (ungeplant) auf die Folgen der Covid-19-Pandemie reagiert werden, welche den Anteil an Fahrradverkehren nochmals deutlich erhöht hat. Auf der Nordseite gab es an der 3 cm hohen Bordsteinkante, welche als weiche Separation zwischen Fahrbahn und Gehweg ausgebildet ist, einzelne Fahrradstürze. Durch ein Heranrücken der mobilen Baumstandorte an die Fahrbahn, zusätzliche Pflanzkisten und Fahrradpiktogramme wurde hierauf unmittelbar reagiert.

 

Auch das Fußngeraufkommen zeigt sich mit dem Verkehrsversuch erhöht. Trotz der, wegen einer Sanierung nicht nutzbaren Holstenhafenbrücke (MuK-Brücke), wurde im September 2020 im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung festgestellt. Dies lässt sich neben einem erhöhten touristischen Interesse an der UNESCO-Welterbestätte „becker Altstadt“ in der Covid-19-Pandemie (Beschränkungen für Auslandsreise), auf Aktionen in der Beckergrube durch Tanzgruppen, Musiker:innen und ein Urban Gardening-Projekt, die erhöhte Aufenthaltsqualität als auch das erweiterte gastronomische Angebot zurückführen. Ebenfalls dürfte die sehr gut genutzte Fahrradinfrastruktur zusätzliche Fußngerverkehre erzeugen (Wechsel zwischen Mobilitätsformen).

 

Fußgängeraufkommen in der „oberen“ Beckergrube Tageswert

 

24h

24h

24h

24h

 

2019

2020

2021

Lasermessung 2021

dseite (Parkhaus)

3.739

3.604

3.853

4.633

nfhausen/ Breite-Straße

2.054

2.202

1.944

2.650

Breite-Straße/ Fünfhausen

1.685

1.402

1.909

2.283

Nordseite (Theater)

1.857

2.202

2.180

1.859

nfhausen/ Breit-Straße

590

800

889

740

Breite-Straße/ Fünfhausen

1.267

1.402

1.291

1.119

Gesamtaufkommen

5.597

5.806

6.033

6.492

*Erhebungen am 19.09.2019, 22.09.2020, 03.06.2021 sowie Tagesdurchschnitt 17.06.-13.07.2021 (Laser)

 

Im Ergebnis zeigt sich, dass mit der neuen Verkehrsführung und den begleitenden Maßnahmen eine Reduzierung des Kfz-Verkehrs um die Hälfte erfolgte, wobei die Veränderung allein durch die Herausnahme von Verkehren ohne Ziel in der Innenstadt (Durchgangsverkehre) erreicht wurde.

Bewohnerverkehren, dem ÖPNV, den Rad- und Fußverkehren konnte eine erfahrbar here Priorität eingeumt werden. Es entstanden sichere und staufreie Wegebeziehungen ohne negative Auswirkungen auf angrenzende Straßenume. Die Ausweisung eines verkehrsberuhigten Geschäftsbereichs mit Zufahrtsbeschränkungen und einem Tempolimit von 20 km/h ist vorbehaltlich noch ausstehender Erkenntnisse aus der Weihnachtszeit ein funktionierendes Instrument zur Umsetzung des Schlüsselprojekts Beckergrube.

 

Dieses Ergebnis wird ferner bestätigt durch die Befragung einiger Gastronomen und Gewerbetreibender seitens des ArchitekturForumsbeck im September 2020. Hierbei wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Parksuchverkehr in der Großen Burgstraße im Zusammenhang mit der Wegnahme von 19 Stellplätzen abgenommen hat, gleichzeitig aber weiterhin ein hohes Verkehrsaufkommen in der Großen Burgstraße aus Richtung Königstraße zu registrieren ist. Es wurde der Wunsch nach einer Ausweitung der Verkehrsberuhigung geäert.

 

Seitens des Stadtverkehrs konnten keine negativen Auffälligkeiten im Betriebsablauf oder beim Ein- und Ausstieg festgestellt werden. Das Durchfahrts- und Halteverbot im verkehrsberuhigten Geschäftsbereich beschert ferner dem Taxigewerbe eine verbesserte Ausgangssituation an den Fußngerzonen und dem Stadttheater, wenngleich der Taxenverband die Reduzierung der ausgewiesenen Taxenstellplätze kritisierte.

 

Das Parkhaus St. Marien im Wehdehof wird verstärkt genutzt. Von Juli bis September 2020 gab es nach Aussage des Betreibers zwischen 8.00 und 19.00 Uhr eine Steigerung der Belegung von 12% im Vergleich zum Vorjahr.

 

Aufenthaltsqualität, Fahrradinfrastruktur, Sondernutzungen

Die temporär ausgestalteten Freiflächen mit den angebotenen konsumfreien Sitzmöbeln und mobilen Baumstandorten erfreuen sich großer Beliebtheit. Die täglichen Eindrücke werden, sowohl durch die Befragungen und Raumbeobachtungen, als auch durch die Vielzahl an geführten Ortsgesprächen bestätigt. Hierbei wurde die Möglichkeit zum konsumfreien Verweilen und die Etablierung von „Stadtgrün“ begrüßt und eine abgestimmte, sowie auf alle Generationen zugeschnittene Möblierung gewünscht.

 

Festhalten lässt sich, dass die installierten Fahrradmodule auf eine starke Nachfrage stoßen. Das im Maximum 100 Fahrradabstellmöglichkeiten fassende Modulsystem wird über große Zeiträume am Tag umfangreich genutzt, wie auch die zehn neuen Bügel in der Breiten Straße. Sichtbar fehlt ein gewisses Angebot für Lastenfahrräder oder Fahrräder mit Anhänger, wenngleich davon auszugehen ist, dass eher ein überschaubarer Bedarf begründet durch fehlende Verschlussmöglichkeiten im öffentlichen Raum besteht. Erkennbar hat die Beckergrube, sowohl als Transitraum, als auch als Zielort (u.a. Theater, Einzelhandel, Gastronomie) für den Fahrradverkehr deutlich an Attraktivität gewonnen. Hier ist ein wichtiges Potential für die zukünftige Entwicklung zu sehen.

 

Wenngleich die Covid-19-Pandemie für die Gewerbetreibenden eine herausfordernde Situation darstellt, kann davon ausgegangen werden, dass insbesondere die ansässigen Gastronomen von den „gewonnenen“ Außenflächen (Sondernutzungen) profitieren. Ein gleichartiges Bild zeigt sich bei der Aneignung des öffentlichen Raumes durch Initiativen wie die Grüne Beckergrube oder Tanz- und Musikgruppen, die die geschaffene „Multifunktionsfläche“ im Bereich des Durchgangs zum Wehdehof positiv bespielen. Auch die Ausstellungen in den Informationscontainern, die zur Akzeptanz des Verkehrsversuchs beitragen (Hinweis: Die Evaluationsergebnisse werden ab September 2021 ergänzend ausgestellt), sind gut besucht. Das tägliche Öffnen und Schließen der Container übernehmen Paten das Hotel KO15 am Koberg und das Büro Heske Hochgürtel Lohse Architekten in der Beckergrube.

 

Die dargelegten Erkenntnisse bestätigen die Lagegunst der Beckergrube in der Altstadt, im Eingangsbereich zur Achse Koberg Breite Straße Klingenberg. Sie erlauben den Rückschluss, dass aufgrund der vorhandenen Straßenbreite und des bestehenden städtebaulichen Bruches innerhalb des UNESCO-Welterbes, neue Nutzungen und Formen der Ausgestaltung des öffentlichen Raumes eine positive Umsetzung finden können. Hierbei zeigt sich die Vielfalt an Nutzungen, in Verbindung mit Möglichkeiten zur temporären Aneignung, als eine herauszuhebende Charakteristik des Stadtraums. Zugleich hat u.a. der Welterbe- und Gestaltungsbeirat im Zuge einer Ortsbegehung im August 2020 darauf hingewiesen, dass eine Aneignung des öffentlichen Raumes im Sinne von Sondernutzungen (Außengastronomie, Warenauslagen etc.), sowie eine „ungelenkte“ Anordnung von Stadtmobiliar zu negativen Effekten, wie einer erhöhten Lärm- und llentwicklung oder eines unharmonischen Straßenbildes, führen können. Im Zuge der weiteren Planungen ist daher eine Balance zwischen konsumfreien und gewerblichen Nutzungen herauszuarbeiten und sind gleichzeitig die Wohnqualitäten der Beckergrube im Blick zu behalten.

 

Die Einbindung des Stadttheaters in die Bespielung der Freiflächen gelang, durch die Covid-19-Pandemie und die langandauernde Schließung des Theaters, nur begrenzt. Zwar zeigte sich bei den wenigen stattfindenden Veranstaltungen, dass der erweiterte Gehwegbereich durchaus vor und nach den Aufführungen genutzt wird. Ebenso hat das Theaterrestaurant die hinzugewonnenen Flächen als Außengastronomie nutzen können. Jedoch sind diese Beobachtungen nicht hinreichend, um Zielsetzungen für die anstehenden Planungen zu formulieren, bspw. in Bezug auf die Idee und Verortung eines Theaterplatzes in der Beckergrube. Weitere Erkenntnisse sollen in der zweiten Jahreshälfte 2021 gesammelt werden. Außerdem sind Gespräche mit den Verantwortlichen des Stadttheaters geplant.

 

Die, im Zusammenhang mit der Idee eines Platzes unmittelbar vor dem Theater, erfolgte Verlegung der ÖPNV-Haltestelle auf der Nordseite (um ca. 50 m in Richtung Untertrave) hat die hiermit verbundenen planerischen Herausforderungen verdeutlicht. Es gelang die „Freistellung“ des Stadttheaters als öffentliche Kultureinrichtung, allerdings noch nicht mit dem gewünschten Erkenntnisgewinn (s.o.). Andererseits wurde die Verlagerung in westliche Richtung bei den dort ansässigen Gastronomen und Anliegern, begründet durch die Emissionsbelastungen, kritisiert. Seitens des Stadtverkehrs werden die zusammenhängende Lage der Haltestellen und die barrierefreie Ausbildung positiv bewertet.

 

Partizipation

Der, mit der Erarbeitung des Rahmenplans begonnene, interaktive Partizipationsprozess wird durch den Verkehrsversuch fortgeführt und vertieft. Zunächst gelang dies durch eine Informationsveranstaltung und gezielte Dialogrunden. Im Verlauf des Versuchs konnten wichtige Informationen in den frei zugänglichen Projektausstellungen im Stadtraum (Informationscontainer) vermittelt werden. Ebenso gelang in regelmäßigen Ortsgesprächen mit den Anliegern und aktiven Akteuren eine Fortsetzung des inhaltlichen Austausches. Auf diese Weise konnten die Hintergründe des Verkehrsversuchs und der Rahmenplan Innenstadt mit Mobilitätskonzept erörtert, als auch auf den Prozesscharakter und bestehende Mitwirkungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht werden. Prozessfördernd zeigte sich das enge Zusammenwirken mit dem Lübeck Management, der Wirtschaftsförderung und der Lübeck und Travemünde Marketing GmbH.

 

Zu erwähnen sind dennoch die umfangreichen Einschränkungen in der Covid-19 Pandemie, die den Austausch mit Anliegern, der Fachwelt und der interessierten Öffentlichkeit nur bedingt erlaubt haben. Vor allem der ersatzlose Wegfall von Veranstaltungen und größeren Aktionen ist hier zu erwähnen. Jedoch ist es über eine regelmäßige Präsenz im Stadtraum gelungen, den Dialog fortzuführen und auf aktuelle Gegebenheiten zu reagieren. Auffällig ist, dass eine tiefergreifende Vernetzung unter den Anliegern, bzw. Gewerbetreibenden fehlt. Ergänzend zu einer funktionalen und baulichen Neugestaltung ist die Bildung einer „Interessengemeinschaft“ anzuregen.

 

Themen wie Klimaanpassung, die Mobilitätswende oder die Vitalisierung der Altstadt stoßen auf ein großes Interesse, wie die neugegründete Initiative Grüne Beckergrube aus Aktiven der Fridays for Future-Bewegung, Anwohner:innen und Musiker:innen des Philharmonischen Orchesters zeigen. Mit finanzieller Unterstützung durch die Possehl-Stiftung und nachbarschaftlichem Engagement konnte u.a. ein Urban Gardening-Projekt etabliert werden. Neben der Tatsache, dass die Beckergrube offensichtlich geeignet ist, neue gesellschaftliche Bewegungen zu thematisieren, erfüllt das Projekt einen Bildungsauftrag mit Workshopangebotenr Schulen und Vereine. Auch begründet durch positive Rückmeldungen seitens der Stadtgesellschaft, fand das Projekt entgegen erster Absichten eine Fortsetzung über das Jahr 2020.

 

Dass sich die Beckergrube für gesellschaftliche Diskurse eignet, verdeutlichte auch die Europäische Mobilitätswoche 2020. Auf der „Multifunktionsfläche“ hat u.a. die Klimaleitstelle gemeinsam mit der TH Lübeck neue Mobilitätsmuster thematisieren können. Eine Neuauflage des Mobilitäts-Aktionstags warr 2021 vorgesehen, musste aber aufgrund der aktuellen Vorgaben für Veranstaltungen abgesagt werden.

 

Befragung Technische Hochschule Lübeck

Durch den Fachbereich Bauwesen (Fachgruppe Stadt, Soziologie der gebauten Umwelt) wurden von Mai bis Juni 2021 Interviewserien mit sieben Eigentümer:innen, 16 Vertreter:in-nen publikumsbezogener Nutzungen (u.a. Einzelhandel, Gastronomie) und 12 Anwohner:in-nen durchgeführt. Den Interviews wurde eine systematische Raumbeobachtung aller Teilräume zugrunde gelegt.

 

Ziel war keine Vollerhebung oder repräsentative Umfrage, sondern eine qualitative Interviewführung, um die inhaltliche Zielformulierung für den weiteren Planungsprozess zu ergänzen. Die Interviews erlauben Rückschlüsse zu bestehenden Haltungen zum Verkehrsversuch, vermitteln wichtige Anregungen für eine Neugestaltung und geben darüber hinaus Hinweise zur Mitwirkungsbereitschaft unter den Befragten. Die Auswertung liefert, über den unmittelbaren Erkenntnisgewinn hinaus, eine wertvolle Grundlage für die Aufgabenstellung des bevorstehenden Wettbewerbs und bildet einen Ausgangspunkt für vertiefende Kooperationen unter den ansässigen Akteuren zur Weiterentwicklung der Beckergrube.

 

Zusammenfassung der Kernaussagen aus den Interviews und Ergebnisse der Raumbeobachtungen (ausführliches Synthesepapier siehe Anlage)

 

Einschätzung von Zielsetzung und Umsetzung des Verkehrsversuchs

  • Die Ziele des Verkehrsversuchs werden von einem Großteil der Befragten grundsätzlich positiv gesehen, allerdings wurden die Erwartungen an die Umsetzung der Ziele in der Praxis noch nicht vollends erfüllt. Als besonders positiv werden die angestrebten Ziele der Verkehrsberuhigung, der Verbesserung der Aufenthaltsqualität und der Stärkung der Gemeinschaft in der Beckergrube hervorgehoben.
  • Verbesserungsvorschläge werden in den meisten Fällen in Bezug auf die Umsetzung geäußert. Diese werden besonders hinsichtlich der Verwirklichung einer strikten Verkehrsberuhigung, dem Finden von individuellen Lösungen für Durchfahrts- und Parkregelungen für Anlieger (insbesondere Gewerbetreibende) und einer geschmackvolleren Gestaltung des Straßenmobiliars angemerkt.
  • Negative Ansichten finden sich in der Gruppe der Eigentümer:innen und Anwohner:in-nen insbesondere bei Personen, für die sich durch den Verkehrsversuch persönliche Nachteile ergeben.
  • Die Gruppe der publikumsbezogenen Nutzer:innen diskutiert den Verkehrsversuch sehr kontrovers: Besonders beim Thema der Durchfahrtsregelung und dem Wegfall von Parkplätzen werden Bedenken hinsichtlich der Anlieferung und des Verlusts von Kunden geäußert; der dazugewonnene Straßenraum für Bewirtungsmöglichkeiten und Aufenthalt wird hingegen befürwortet.

 

Anregungen (Auswahl, weitere siehe Anlage)

  • Schaffung einer eindeutigen Verkehrssituation durch eine klare Beschilderung oder eine farbliche Markierung des Verkehrsraumes.
  • Bessere Parkleitsysteme, um Parksuchverkehr auf der Altstadtinsel zu verhindern.
  • Mehr Sicherheitsraum für Radfahrer:innen durch Radfahrstreifen o.ä. bei der Aufteilung des Verkehrsraumes einräumen.
  • Prüfung von alternativen Routen (weniger Frequentierung) und dem Einsatz von kleineren, leiseren E-Bussen zur Verminderung des Verkehrslärmes und der Emissionen.
  • Gestaltung von größeren Platzsituationen zum Verweilen und zur Entschleunigung der Beckergrube (vor dem Theater oder als kleinere Platzinseln entlang der Beckergrube).
  • Sichtbare und weitgreifende Umgestaltung des Straßenraumes.
  • Anpassung der Beteiligungsformate an die jeweilige Umsetzungsphase des Verkehrsversuches (Bsp. Runder Tisch für Gewerbetreibende).

 

Schlussfolgerungen

Die von der Bürgerschaft beschlossene Durchführung eines Verkehrsversuchs zeigt sich als wertvoller und zentraler Schritt hin zur Neugestaltung der Beckergrube. Es konnten wichtige Hinweise für eine funktionierende und zukunftsweisende Verkehrsführung gewonnen werden. Zugleich zeigt sich, dass die hierdurch gewonnenen Freiräume neuen Entwicklungen einen optimalen Rahmen geben.

 

Das im Rahmenplan Innenstadt formulierte Ziel einer Vitalisierung der Altstadt durch eine zukunftsgewandte Reduzierung von Autoverkehren, bei gleichzeitiger Stärkung klimafreundlicher Verkehre und in Verbindung mit einer deutlichen Steigerung von Aufenthaltsqualitäten, sowie der Stärkung kleinteiliger Gewerbestrukturen ist in der Beckergrube in besonderer Weise umsetzbar. Nicht nur der im Stadtraum erlebbare städtebauliche Bruch und die einhergehenden Straßenraumbreiten, sondern die Transformationsfähigkeit des Stadtraums bekräftigen die Benennung der Beckergrube als Schlüsselprojekt. Die Lage im „Eingangsbereich“ zur Breiten Straße ist als Chance zu verstehen. Eine Neugestaltung kann einen entscheidenden Beitrag zur Stabilisierung der Fußngerzone mit Ihren großen Geschäftseinheiten leisten, indem die vielfältige Nutzungsstruktur in der Beckergrube durch eine attraktive und innovative Straßenraumgestaltung gefördert wird. Ziel sollte es sein, diese Qualitäten herauszustellen und urbane Aspekte hinzuzufügen.

 

Die Stärkung des ÖPNV, Rad- und Fußverkehrs, sowie die Einbindung des Stadttheaters sind ebenso wichtige planerische Aufgaben wie eine neue Raumstruktur. Die Themen Erschließung und Sondernutzungen bilden weitere zentrale Fragestellungen. Hierbei gilt es, die Interessen der Bewohner:innen, Gewerbetreibenden, Eigentümer:innen ebenso konsequent mitzudenken, wie die der Gesamtstadt, und eine transparente Interessensabwägung zu gewährleisten.

 

Aufgabe ist es nunmehr, aus der vorliegenden Evaluation konkrete städtebauliche Maßnahmen abzuleiten und zum Inhalt eines qualitätssichernden Wettbewerbs zu machen. Es gilt, die lineare Raumstruktur aufzubrechen und ein neues Raumgefüge mit erlebbaren Rhythmen und Zonierungen zu entwickeln. Hierbei ist ein Umgang mit den historischen stadträumlichen Strukturen Ausprägung der Nachkriegsmoderne im südlichen Bereich und Straßenbild der Jahrhundertwende im nördlichen Bereich zu finden. Der überdimensionierte atypische Straßenquerschnitt ist in unterschiedliche Orte zu gliedern: in Aneignungsflächen, konsumfreie und digitalisierte Zonen (WLAN, Stadtmobiliar mit Ladegeräten etc.), in Spielorte, in attraktiveume für Gastronomie und Einzelhandel. Durch weitere bauliche Maßnahmen und eine kluge Möblierung sollen kommunikative Orte entstehen. Außerdem soll das Stadttheater seinen „Platz“ in der Beckergrube finden. Dieser muss nicht zwingend direkt vor dem Theater sein, da dies historisch nicht begründet ist. Mit zusätzlichem Grün sollen eine neue stadträumliche Atmosphäre und eine positive Veränderung des lokalen Kleinklimas gelingen.

 

Der gewählte partizipative Ansatz bewährt sich als vorausschauend. Die Planungen können so auf aktuelle Entwicklungen reagieren und erfahrbar bleiben. Anzuerkennen ist zudem der, durch den Verkehrsversuch und die temporäre Möblierung erzielte, resiliente Charakter der Beckergrube. Durch die vorgenommene Neuordnung der Flächen und die unterschiedlichen Aneignungsformate konnten in der Beckergrube Antworten auf die Covid-19-Pandemie gegeben werden. Es gelang dem erhöhten Bedarf an Außengastronomie und dem gesteigerten Fahrradaufkommen nachzukommen und die Umsetzung urbaner Projekte, bzw. Initiativen zu bedienen. Diese Potenziale dürften nicht zuletzt zur Aufnahme des Projekts in das Bundesprogramm „Nationale Projekte des Städtebaus“ geführt haben.

 

Weiteres Vorgehen

In Anbetracht der besonderen städtebaulichen Aufgabenstellung, der Anstoßfunktion als Schlüsselprojekt, sowie mit Blick auf die, mit dem Verkehrsversuch hervorgerufene, Erwartungshaltung wird empfohlen, den partizipativen und transformativen Planungsprozess fortzuführen. Der eingeleitete fachliche Diskurs ist voranzutreiben und in einem anstehenden Schritt auf die Benennung konkreter städtebaulicher Maßnahmen zu konzentrieren. 

 

Es eignet sich das Format eines „gläsernen“ 1,5-tägigen Expertenworkshops, der aktuell durch die Verwaltung für Oktober 2021 organisiert und nach Möglichkeit im Stadtraum durchgeführt wird. Dies eröffnet die Chance, den dargelegten Erkenntnisgewinn in realisierbare städtebauliche Zielsetzungen zu überführen und kann eine qualifizierte Ausarbeitung von Eckpunkten für die Wettbewerbsauslobung ermöglichen. Im Sinne des partizipativen Ansatzes sollten Experten aus den Bereichen Landschaftsarchitektur, Verkehrsplanung, Städtebau und Wettbewerbsbetreuung im engen Austausch mit interessierten Anliegern und Politik agieren. Einzubinden wären ebenso die Technische Hochschule Lübeck und die sich bisher eingebrachten Initiativen und Vereine (u.a. Grüne Beckergrube, ArchitekturForum).

 

Eine Entscheidung über die Art des Wettbewerbs, insbesondere zur Verfahrenswahl und zu Beteiligungsmöglichkeiten, sollte im Nachgang zum vorgenannten Workshop getroffen werden. Unter anderem ist ein offener, einphasiger Wettbewerb oder ein geladener Wettbewerb mit einer oder zwei Arbeitsphasen vorstellbar. Die Auslobung des Wettbewerbs ist für Anfang 2022 vorgesehen. Mit der baulichen Umsetzung soll 2024 begonnen werden. Es wird von zwei oder drei Bauabschnitten ausgegangen.

 

Weiter wird die Gründung eines Beirats aus Anliegern, Politik und Experten empfohlen. Mit einem solchen Instrument kann der bereits eingesetzte fachliche Austausch, über die anstehenden Planungsschritte bis hin zur Umsetzung inkl. Baustellenmanagement, verstetigt werden. Ein solches Vorgehen ist international erprobt und empfiehlt sich nicht nur aufgrund der hohen Ansprüche an die Neugestaltung der Beckergrube. Häufig entwickeln sich aus projektbasierten, informellen Gremien ein nachhaltiges Engagement und eine positive Nachbarschaft. Gerade hinsichtlich der vielfältigen und kleinteiligen Nutzungsstruktur, sowie mit Blick auf ein urbanes Nebeneinander von Wohnen, Arbeiten, Gastronomie und Erholung, ist die selbstständige Herausbildung einer Interessengemeinschaft zu begrüßen.

 

Finanzierung

Im Oktober 2020 hat sich die Hansestadt Lübeck mit Beschluss der Bürgerschaft (VO/2020/09143) für eine Aufnahme in das Bundesprogramm Nationale Projekte des Städtebaus beworben. Im März 2021 wurde Lübeck unter mehr als 98 Bewerbungen und als einzige Stadt in Schleswig-Holstein mit einem Förderrahmen von 3,5 Millionen Euro ausgewählt (Informationen siehe VO/2020/09143). Ein erstes Koordinierungsgespräch mit dem zuständigen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat im August 2021 stattgefunden. Gegenwärtig wird ein qualifizierter Antrag erarbeitet, um diesen im Oktober 2021 einreichen zu können. Der kommunale Eigenanteil ist im aktuell aufzustellenden Haushalt ab 2022 geordnet.

 

Auf Basis einer durch die Verwaltung erstellten vorläufigen Kostenannahme ist von Gesamtaufwendungen in Höhe von 7,7 Millionen Euro für die gesamte Beckergrube (zwischen Breite Straße und An der Untertrave) auszugehen. Die Fördermittel aus dem Förderprogramm Nationale Projekte des Städtebaus werden daher maßgeblich r die Neugestaltung der oberen Beckergrube (Breite Straße nfhausen), in Anlehnung an den Verkehrsversuch, eingesetzt. Für die Umsetzung der weiteren Bauabschnitte im unteren Teil der Beckergrube werden zusätzlicherdermöglichkeiten, u.a. mit dem Land Schleswig-Holstein, geprüft.

 

 

 


Anlagen


Anlage 1: Synthesepapier der Technischen Hochschule Lübeck

 

 

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