Rede zum Volkstrauertag 2002 von Bürgermeister Saxe

Veröffentlicht am 18.11.2002

Rede zum Volkstrauertag 2002 von Bürgermeister Saxe

Rede zum Volkstrauertag 2002 von Bürgermeister Saxe

020880R 2002-11-18

Rede von Bürgermeister Bernd Saxe vor dem Volksbund Kriegsgräberfürsorge im Bürgerschaftssaal am 11. November 2002, 11.30 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

wieder gedenken wir an diesem vorletzten Sonntag vor Beginn der Weihnachtszeit der Toten zweier Weltkriege, der Opfer der nationalistischen Gewaltherrschaft und derjenigen, die bei oder in Folge der verschiedenen Vertreibungen, die unser Kontinent im letzten Jahrhundert gesehen hat, ihr Leben lassen mußten.

Wir gedenken an diesem Tag der Toten des ersten Weltkriegs, der über 10 Millionen Menschen das Leben kostete.

Aus den Schlachtfeldern des Graben- und Gaskriegs erhob sich der Völkerbund, um künftig für alle Zeiten den Frieden in der Welt zu sichern.

Aber die Saat künftigen Völkermords war bereits gelegt, und der Wille der Regierenden wie die Kraft der Völker waren zu schwach um zu schaffen, was man sich über den Gräbern geschworen hatte: Nie wieder Krieg!

So zerstob die Hoffnung auf Frieden in Europa nach nicht einmal 15 Jahren und endete mit 55 Millionen Toten in der Hölle von Stalingrad, den Bombennächten von Coventry bis Hamburg und Dresden und im Höllenfeuer der Konzentrationslager.

In diesem Jahr jähren sich zum 60. Mal drei Ereignisse, die stellvertretend für das Grauen und für die Verheerung des letzten Krieges und für den Rückfall des Volkes der Dichter und Denker in die Barbarei stehen:

(1.) Im Januar 1942 wurde auf der Berliner Wannseekonferenz die Deportation und Vernichtung der europäischen Juden beschlossen.

In der Folge wurden im Mai 1942 die ersten 1.500 Juden systematisch durch Gas in Auschwitz getötet und im Juli 1942 wurden 350.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto nach Treblinka verschleppt - Auftakt für einen beispiellosen Massenmord, dem nicht nur Juden sondern auch Sinti und Roma, politisch Andersdenkende wie Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschafter, oder einfach Andersartige wie Homosexuelle zum Opfer fielen.

(2.) Das zweite Ereignis war im Juli 1942 der deutsche Sturm auf Stalingrad.

Stalingrad steht wie Verdun sinnbildlich für die Barbarei und Bestialität des Krieges, für sinnlosen Opfertod, für eine menschenverachtende Ideologie und - das unterscheidet Stalingrad von Verdun - für die Verwüstung urbanen Lebens.

Stalingrad markiert aber auch die tiefe Narbe in der kollektiven Seele von Deutschen und Russen, die erst jetzt nach langen Jahrzehnten anfängt zu verheilen.

(3.) Die Verwüstung urbanen Lebens als einschneidendes drittes Ereignis erreichte in jenem Jahr auch Deutschland, die Ouvertüre hierzu war das erste Flächenbombardement auf eine deutsche Großstadt, auf Lübeck, und endete mit der Zerstörung aller deutschen Großstädte im Bombenhagel.

War die Zivilbevölkerung im ersten Weltkrieg nur mittelbar betroffen, so wurde sie nun bewußt und absichtsvoll Zielscheibe des Bombenterrors. Am Anfang dieser neuen Qualität des Krieges stand aber nicht Lübeck, sondern das baskische Guernica, Rotterdam, Coventry und London.

Ich will an der Stelle nicht die vordergründige Unterscheidung einführen zwischen der "unschuldigen Zivilbevölkerung" einerseits und den Uniformierten, den Soldaten und anderen Uniformträgern, andererseits. Diese Unterscheidung führt in doppelter Hinsicht in die Irre: Wer Uniform trug, war nicht automatisch schuldig, wer Zivilist war, ist nicht allein deswegen von Schuld freizusprechen.

Jahrzehnte der Aufarbeitung der Geschichte und der Debatte über Schuld und Verantwortung haben uns gelehrt, genau hinzuschauen, zu differenzieren, vorschnellen Urteilen zu mißtrauen.

Den Gegnern und den Ohnmächtigen, den Frauen und Kindern, den Verfolgten und Vertriebenen standen haßerfüllte Handwerker des Tötens und Schreibtischtäter, Verblendete und Verführte, aber auch jene gegenüber, die Befehlen Folge zu leisten hatten und dies nur um den Preis des eigenen Todes hätten verweigern können. Und es gab auch die, die aus Gleichgültigkeit oder Angst die Augen verschlossen vor dem, was auf den Schlachtfeldern und in den Konzentrationslagern geschah, die eben nicht alle weit weg waren sondern häufig genug auch in der Nachbarschaft lagen, wie zum Beispiel Neuengamme, Buchenwald, Dachau oder Flossenbürg in der Oberpfalz.

Meine Damen und Herren,

nach dem ersten Weltkrieg gedachte man also nur dem vermeintlichen Heldentod deutscher Soldaten, was dazu führte, daß der Volkstrauertag in der Zeit des Nationalsozialismus als Heldengedenktag mißbraucht wurde; noch heute träge der heutige Tag in rechtsextremistischen Kreisen diese Bezeichnung.

Aber schon der erste Bundespräsident Theodor Heuss stellte fest, daß es am Volkstrauertag nicht um Heldenverehrung geht, denn die "die in Gräbern ruhen...wollen gar nicht, daß wir mit lauten Worten sie "Helden" nennen...Sie waren Menschen wie wir. Aber wenn wir in der Stille an den Kerzen stehen" - so Heuss weiter - "vernehmen wir ihre gefaßt gewordenen Stimmen:

Sorgt Ihr, die Ihr noch im Leben steht, daß Frieden bleibt. Frieden zwischen den Menschen, Frieden zwischen den Völkern."

In diesem Geist reifte nach dem zweiten Weltkrieg das Bewußtsein bei uns Deutschen als den Auslösern von Krieg, Tod und Vertreibung, daß es nicht nur darum gehen konnte, jenen auf dem vermeintlichen Feld der Ehre Gefallenen zu gedenken, sondern auch jenen Menschen

- die auf Grund ihrer Religion,

- ihrer Herkunft,

- ihrer Lebensweise,

systematisch verfolgt, verschleppt, versklavt und ermordet wurden.

Wir gedenken am heutigen Tag aber auch der Angehörigen, Freunde und Bekannten der Opfer von Krieg, Vernichtung und Vertreibung, die den Verlust eines geliebten Menschen zu beklagen haben.

Häufig genug kommt immer noch die Ungewissheit dazu, nicht wirklich zu wissen, wann und wo der geliebte Mensch starb und begraben wurde - wenn er denn begraben wurde.

Wir sollten an dem heutigen Tag aber auch an jene Menschen denken, die versehrt an Körper und Geist aus dem Krieg heimkehrten, das Konzentrationslager und die Verliese der Gestapo überlebten.

Die häufig geplagt wurden von Schuldgefühlen und Alpträumen des entronnenen Grauens, aber niemanden hatten, dem sie es beichten konnten oder eine Gesellschaft vorfanden, die davon nichts wissen wollte.

Seit Vietnam und Afghanistan oder dem Golfkrieg wissen wir, was der Krieg aus Menschen machen kann, die vielleicht körperlich unversehrt heimkehren, aber deren Seele in Trümmern liegt.

Eingedenk dieses Wissens sind unsere Gedanken bei den Soldaten der Friedensmissionen in aller Welt und insbesondere bei den Soldaten der Bundeswehr im ehemaligen Jugoslawien und in Afghanistan.

Meine Damen und Herren,

zum Volkstrauertag 1956 mahnte Konrad Adenauer: "Der Mensch vergißt, aber zuweilen vergißt er, so fürchte ich, zu leicht und zu schnell."

Die Botschaft daraus an uns als Demokraten und Bürger, vor allem an uns Deutsche, lautet: Nicht zu vergessen, was gewesen ist, und daraus die Lehre zu ziehen, daß niemals wieder auf europäischen Boden die Geißel des Krieges Tod und Vertreibung über die Menschen bringen darf.

Diese Einsicht hat einen langen Weg gebraucht, bis sie in die Köpfe und Herzen der Menschen vordrang.

Bezogen auf Europa, scheinen die Menschen zumeist ihre Lehren aus den beiden Weltkriegen gezogen zu haben.

Und wieder war es Theodor Heuss, der das Handlungsprogramm treffend zusammenfaßte:

"Jeder getötete Soldat, jeder verhungerte und erfrorene Flüchtling, in unvergleichlicher Weise aber jeder Mann, jede Frau, jedes Kind, die wegen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihres Geschlechts oder ihrer Religion ermordet wurden, verlangen von uns, Gewaltherrschaft abzuwehren, Zivilcourage und Toleranz zu üben, den Krieg zu ächten und dafür einzutreten, eine Welt in Frieden und Freiheit zu schaffen."

Später brachte es der dritte Bundespräsident Gustav Heinemann auf die knappe Formel:

"Der Krieg ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. Aber auch der Frieden ist kein Naturgesetz."

Mit den Europäern Jean Monnet, Robert Schumann, Konrad Adenauer und Charles de Gaulle wurde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Grundstock für ein Europa in Frieden und Freiheit gelegt, fortgesetzt von Persönlichkeiten wie Willy Brandt und Egon Bahr, die die Aussöhnung mit dem Osten suchten und jene Grundlage legten, die 1990 zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten führte und dem europäischen Integrationsprozeß neuen Schwung gaben.

War vor 1990 die Ostsee noch eine Wasserscheide von zwei sich mit dem atomaren Tod bedrohenden Militärblöcken, so wird dieses Meer ab 2004 zu einem Binnenmeer der Europäischen Union, an deren Ufern sich Frieden, Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit ausbreiten können. Aber: Vorsicht vor allzu großer Sorglosigkeit und trügerischer Sicherheit. Bei allen Fortschritten, die wir erzielt haben, darf nicht vergessen werden: Das Wohlstandsgefälle hier in unserem Ostseeraum, in den Regionen rings um das mare baltikum, beträgt 1 : 40. Das ist der Stoff, aus dem früher Kriege entstanden sind. Also: Auch hier bei uns gilt: Wer Frieden sichern will, muß Wohlstand und soziale Sicherheit schaffen.

Auch bei uns in Europa ist die Geißel des Krieges noch längst nicht gebändigt; hier sei nur an das ehemalige Jugoslawien, an den ungelösten Konflikt in Nordirland oder den des Baskenlandes erinnert. Schauen wir über den Rand Europas hinaus, erinnern uns an die Bilder aus Israel und Palästina, Afghanistan oder Tschetscheniens, wird deutlich: Es bleibt noch viel zu tun.

Hierzu kann ein jeder Bürger seinen Beitrag leisten. Seit über 80 Jahren tut das der "Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge".

Der "Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge" hat sich durch seine Arbeit nicht nur große Verdienste um die Gefallenen der beiden Weltkriege erworben.

Er verleiht ihnen ein würdiges Gedenken und hat sie dabei häufig genug der Anonymität des Massengrabes und der großen Zahl entrissen und den Angehörigen einen Ort der Trauer und des Gedenkens gegeben.

Der Volksbund ist aber auch ein Zeichen der Hoffnung und der Völkerverständigung.

Wer - wie der Volksbund - die Gräber der Gefallenen aller Nationalitäten und Religionen pflegt und betreut, Schulprojekte initiiert, kulturelle Begegnungen über Grenzen hinweg fördert, der dient der Versöhnung und dem Frieden.

Wir danken den vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, den Soldaten der Bundeswehr und den Jugendlichen.

Die Bilder der Tausenden von Jugendlichen aus aller Welt, die Gräber pflegen, vergessene Grabstätten wieder herrichten und über die Gräber hinweg häufig genug Freundschaften schließen, sind eine Ermutigung für eine Zukunft in Frieden und Freiheit.

Sie alle geben den sinnlos Gestorbenen nicht nur ein Stück Würde zurück. Sie leisten darüber hinaus einen unschätzbaren Beitrag für ein vereintes Europa, das nach Jahrzehnten der Teilung endlich wieder zusammenwächst.

Oder wie Albert Schweitzer einmal sagte: "Soldatengräber sind die großen Prediger des Friedens."

Wenn Albert Schweitzer recht hat, dann sollten wir uns verstärkt darum bemühen, daß auch andere Völker ihren Toten ein würdiges Gedenken geben können.

Meine Damen und Herren,

lassen sie uns auch weiter daran arbeiten, die Geißel des Krieges und der Unterdrückung einzudämmen, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit als unveräußerliche Menschenrechte durchzusetzen. +++

Bernd Saxe ist Bürgermeister der Hansestadt Lübeck