Saxe: Thomas Mann hätte seine Freude an diesem Autor

Veröffentlicht am 09.06.2002

Saxe: Thomas Mann hätte seine Freude an diesem Autor

Saxe: Thomas Mann hätte seine Freude an diesem Autor

020432R 2002-06-10

Rede von Bürgermeister Saxe anläßlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Hanns-Josef Ortheil am Sonntag, 9. Juni 2002, im historischer Scharbausaal der Stadtbibliothek


“Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Ortheil,


als ich Sie am 29. April nach der Jurysitzung anrief, um Sie zu fragen, ob Sie den diesjährigen Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck annehmen würden, lasen Sie gerade in seinen Tagebüchern. Über diese Koinzidenz war ich zusammen mit den über Lautsprecher mithörenden Jurymitgliedern wohl ebenso überrascht wie Sie über die Entscheidung des Preisgerichts.


Daß Sie Thomas Mann mögen, kann niemanden, der Ihr Werk kennt, verwundern. Wir spüren dieselbe Lust am Erzählen und Strukturieren, am Erfinden und Ausmalen von Figuren, die dem Leser plastisch vor Augen stehen. Sie lieben wie er Melodie und Rhythmus der Sprache, gehen virtuos mit ihr um und spielen mit ihr wie der Komponist mit musikalischen Parámetern. Ihre Romane und Erzählungen sind komponiert wie mehrstimmige Partituren, komplexe Geflechte aus Themen und Motiven.


Aber die Nähe zu Thomas Mann zeigt sich nicht nur in der virtuosen und musikalischen Sprachbehandlung, sondern auch im Sujet des Künstler- und Gesellschaftsromans. Und sind Sie nicht auch der Meinung, daß die Begründung der Jury für den diesjährigen Preisträger durchaus auch auf den Namensgeber des Preises zutrifft? Ich zitiere:


Die Hansestadt Lübeck verleiht den Thomas-Mann-Preis 2002 an Hanns-Josef Ortheil in Würdigung eines eigenständig-produktiven Werkes, in dem sich Zeit- und Gesellschaftskritik mit Humor, hoher literarischer Sensibilität und anspielungsreicher Sprachkunst paart. Ortheil verbindet in seinen Romanen, Essays und literarischen Tagebüchern persönliche Lebenserfahrungen überzeugend mit den politisch-sozialen Veränderungen in Deutschland. Seine Künstler-Romane weisen ihn zugleich als subtilen Kenner der europäischen Kulturgeschichte aus.


Soweit die Begründung der Jury, der ich für ihr differenziertes, abgewogenes und eindeutiges Urteil an dieser Stelle danken möchte.


Ich glaube, Thomas Mann hätte seine Lust an diesem Autor und wäre mit der Wahl der Jury zufrieden. Wie Sie liebte auch er die Musik, die ihm viel bedeutete und in allen Lebensphasen begleitete. In vielen seiner Werke spielt sie eine zentrale Rolle, nicht nur in den Künstlernovellen und -romanen vom Bajazzo bis zum Doktor Faustus.


In Ihren Werken, lieber Herr Ortheil, zeigt sich aber nicht nur die Liebe zur Musik, sondern auch eine große Kennerschaft. Die Art, wie Sie diese Kennerschaft literarisch umsetzen, “macht aus dem Wissen ein Fest”, um ein von Ihnen verwendetes Zitat aufzugreifen. Auch ich erlebte die Lektüre der “Nacht des Don Juan” und anderer Ihrer Bücher in diesem Sinne als Fest. Wie es Ihnen gelingt, die biographischen Fakten und Hypothesen um die Entstehung des “Don Giovanni” in Literatur zu verwandeln und nicht nachlassende Leselust zu wecken, ist hohe Kunst und reines Vergnügen. Und so, wie ein Kritiker über Sie sagte, “Schreiben ist für Ortheil die Vergewisserung seiner Existenz” (M. Töteberg), treten wir als Leser Ihrer Bücher in einen Dialog mit uns selbst und erfahren uns in so verschiedenen, geliehenen Existenzen wie Mozart, Da Ponte, Casanova neu. Das Ganze ist auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven brillant komponiert und erzählt. Ich glaube, Sie haben das Geheimnis bereits vor 20 Jahren in Ihrem einfühlsamen Essay über Mozarts Briefe erkannt und preisgegeben. Sie bekannten, nicht nur auf Mozart bezogen: “Vor der Schrift ist die Sprache, vor der Sprache das Sprechen, vor dem Sprechen aber die Musik” (“Mozart. Im Innern seiner Sprachen” 1982). Und 12 Jahre später erklärten Sie in Ihrem autobiographischen Essay “Das Element des Elephanten” (1994): Schreiben ist “eine Übertragung des Sprechens in eine abstrahierte Musik.”


Ist es da verwunderlich, daß wir uns über die musikalische Gestaltung der Preisverleihung bei diesem Preisträger besonders viel Gedanken machten? Mozart lag nahe, aber welches Stück? Vielleicht ist Ihnen beim Lesen der Einladung aufgefallen, daß wir das Entstehungsdatum der Violinsonate aufgenommen haben: “Datiert Wien, 24. August 1787”. Fünf Wochen später, am 1. Oktober 1787, reist Mozart nach Prag, um dort bis zur umjubelten Uraufführung am 29. Oktober den “Giovanni” zu beenden. Die Oper erhält die Köchel-Nr. 527. Die A-Dur Violinsonate Nr. 526. Sie ist also das letzte Werk vor Vollendung des “Giovanni” und zugleich der Höhepunkt der Gattung im Schaffen Mozarts.


Ich danke jetzt schon Anke Dill und Tamami Toda-Schwarz für den Vortrag dieses ganz besonders schönen Werkes, das uns zeitlich in “Die Nacht des Don Juan” entführt. Der Roman beginnt mit dem Satz: “In einer Herbstnacht des Jahres 1787 erwachte die junge Anna Maria Gräfin Pachta von einem furchtbaren Traum”. Was sie träumte, lesen Sie lieber selbst. Bei aller Fantasie zeichnet Ortheil ein lebendiges und deutliches Zeitbild. 1787: welch ein Jahr in der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte! Goethe vollendete seine “Iphigenie”, Schiller seinen “Don Carlos”. Tischbein malte sein berühmtes Porträt “Goethe auf den Ruinen in der Campagna”, und die 17jährige Dorothea Schlözer, die fünf Jahre später den Lübecker Kaufmann und Senator Rodde heiratete und im heutigen Behnhaus einen schöngeistigen Salon betrieb, wurde in Göttingen als erste deutsche Frau zum Dr. phil. promoviert.


Vielleicht ist es mir mit dem letzten Hinweis sogar gelungen, Ihre subtilen Kenntnisse der europäischen Kulturgeschichte - wie es in der Jurybegründung heißt -, insbesondere der Jahre unmittelbar vor der Französischen Revolution, die Sie in Ihrer Künstlertrilogie als Zeit der schöpferischen Krise und der Sinnlichkeit erfaßten, um einen aparten Aspekt zu ergänzen. Sicherlich gäbe es noch einige weitere versteckte Lübeckbezüge in Ihrem Leben und Werk zu entdecken, z.B. auch zu unserem Ehrenbürger Willy Brandt, dessen Todestag sich in diesem Jahr zum zehnten Male jährt und den Sie u.a. in Ihrem literarischen Tagebuch “Blauer Weg” (1996) mit einer satirischen Miniatur über sein Staatsbegräbnis verewigen. Aber der 10. Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck, den vor Ihnen Peter de Mendelssohn, Uwe Johnson, Joachim C. Fest, Siegfried Lenz, Marcel Reich-Ranicki, Günter de Bruyn, Hans Wysling, Günter Grass und Ruth Klüger erhielten, wird Ihnen nicht verliehen für etwaige Lübeckbezüge, sondern für Ihr bisheriges literarisches Lebenswerk. Für einen erst 50jährigen Autor ist es bereits jetzt von eindrucksvoller Qualität und Quantität. Wenn wir bedenken, was Thomas Mann nach seinem 50. Geburtstag, also vom “Zauberberg” bis zum “Erwählten”, geschrieben hat, dürfen wir zu recht gespannt darauf sein, was Sie, lieber Herr Ortheil, uns noch bescheren werden. Dafür wünschen wir Ihnen viel Lust, Kraft und Erfolg.”

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