Rede zur Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung am 9. Januar 1998 im
Burgkloster zu Lübeck
"Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter Herr Bürgermeister, liebe
Freunde von Willy Brandt,
Die "Welle der Verehrung" (Kieler Nachrichten 7.10.1997) für Willy Brandt
ebbt nicht ab. Selbst Menschen, die sich nicht für Politik interessieren,
können immer noch etwas mit seinem Namen anfangen. Im Pariser Vorort
Clichy wurde bereits vier Tage nach seinem Tod 1992 die erste "Rue Willy
Brandt" eingeweiht. In Lübeck gibt es seit 1993 die Willy-Brandt-Allee.
Wer weiß, wie schwer es ist, eine Straße oder eine Kaserne
umzubenennen, der weiß, was das bedeutet.
In Kiel soll die Uferpromenade im Sanierungsgebiet der Hörn einmal Willy
Brandt Ufer heißen. In Frankfurt und seinem letzten Wohnort Unkel sind
Plätze nach ihm benannt. In Mühlheim trägt eine Schule seinen
Namen. An der Avenida Gomes da Costa im portugiesischen Porto steht ein Denkmal
für ihn. In Dortmund hatte vor zwei Monaten die Oper "Kniefall in
Warschau" Premiere. Und heute platzt das Lübecker Burgkloster aus allen
Nähten!
Woher rührt die tiefe Verehrung für diesen Mann? Die eindrucksvolle
Ausste!lung der Friedrich Ebert Stiftung gibt uns eine Antwort.
Willy Brandt ist ein Sohn der Stadt Lübeck. Deshalb war es der Friedrich
Ebert Stiftung ein besonderes Anliegen, diese Ausstellung endlich auch in der
Geburtsstadt des Arbeiterjungen von der Waterkant zu zeigen.
Ich freue mich sehr, Sie zur Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung
begrüßen zu dürfen. Holger Börner, der Vorsitzende der
Friedrich Ebert Stiftung, ist heute leider verhindert. Er bat mich, Sie auch in
seinem Namen herzlich willkommen zu heißen.
Mit dieser Ausstellung versucht die Friedrich Ebert Stiftung,
Persönlichkeit, politisches Wirken und historische Bedeutung Willy Brandts
einem breiten Publikum und besonders der jüngeren Generation
näherzubringen. Die Rückschau auf seinen Lebensweg zeigt die
Geschichte des 20. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas.
1913, im Todesjahr von August Bebel, erblickt Willy Brandt als Sohn von Martha
Frahm das Licht der Welt. Unehelich. In einer Zeit, in der dies noch als
Sakrileg gilt, zeugt es vom Mut der Mutter und des Großvaters, der den
Jungen bei sich aufnimmt. In den 60er Jahren, in denen sich die Werte erst
langsam wandeln, wird es vom politischen Gegner auf schamlose Weise genutzt, um
den Politiker Brandt zu verleumden. Solche Verletzungen müssen Narben
hinterlassen haben.
Willy Brandts Geburtshaus in der Meierstraße liegt in einem typischen
Arbeiterviertel. Sein Großvater ist Lastwagenfahrer. Seine Mutter
arbeitet als Verkäuferin in einem Konsumverein Willy Brandt wird von klein
auf geprägt durch die Lübecker Arbeiterbewegung. Aber sein ganzes
Leben lang wird ihn auch die traditionelle Weltoffenheit der Hansestadt
begleiten. Wie ein Leitmotiv zieht sich die hanseatische Fähigkeit,
Fremdes aufzunehmen und offen zu sein für Neues, durch seine Biographie.
Auf dem Johanneum, wo er 1932 sein Abitur macht, ist er der einzige
Arbeiterjunge. Damals nur möglich, weil einige Begabte gefördert
werden sollten. Der Englischlehrer riet der Mutter: "Halten Sie Ihren Sohn von
der Politik fern. Die Politik wird ihn ruinieren." Wie gut, daß Willy
nicht auf seinen Englischlehrer hörte. Auch Lehrer können
schließlich irren.
Ein Ausstellungsfoto zeigt Willy Brandt als Abiturient mit seinen
Klassenkameraden und Lehrern. Was fällt sofort auf? Es ist eine reine
Männergesellschaft. Keine Frau weit und breit. Zum Glück hat sich
heute viel geändert. Die Arbeiterbewegung, die SPD und allen voran ihr
Vorsitzender Willy Brandt haben viel dazu beigetragen. Allerdings ähneln
Aufnahmen von EU Gipfeln immer noch zu stark dem Abiturphoto aus den 30er
Jahren!
1933 wird Willy Brandt von den Nazis ins skandinavische Exil getrieben. Sein
ganzes Gepäck ist eine Aktentasche, die ein paar Hemden, hundert
Reichsmark und ein Buch enthält: den ersten Band des "Kapital". Er flieht
auf einem Fischerkahn von Lübeck nach Dänemark und von dort weiter
nach Norwegen. Im Buch "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch
wird eindrucksvoll geschildert, was dieser knappe Satz bedeutet.
Willy Brandt organisiert Widerstand. Reist durch halb Europa. Getarnt als
Osloer Student kehrt er zwischendurch zurück ins Nazi Deutschland. Immer
in der Gefahr, aufzufliegen. Er überlebt, weil ihm zuerst Norwegen und
dann - nach dem deutschen Überfall auf Norwegen - Schweden Asyl
gewähren. Vom humanen und radikalen Pragmatismus der skandinavischen
Arbeiterbewegung geprägt, kehrt er 1945 in das ruinierte Deutschland
zurück.
Von Konservativen wurde Brandt später wegen seiner Flucht ins Ausland als
"vaterlandsloser Geselle" diffamiert. Dabei wurde übersehen, daß
sein Widerstand im Exil - richtig verstanden - aus der Wurzel eines
leidenschaftlichen Patriotismus stammte. Willy Brandt selbst formulierte
einmal: Es "war immer auch nationaler Verrat, was die Nazis mit Deutschland
angestellt haben". Die schroffe Schwarz-Weiß-Debatte der Nachkriegsjahre
war für viele ein willkommenes Ablenkungsmanöver, um sich nicht mit
der eigenen Rolle in der Nazizeit auseinandersetzen zu müssen. Sie wurde
dazu benutzt, eigenes Fehlverhalten zu verdrängen.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist für Willy Brandt zugleich der Beginn
für seine Arbeit in Berlin. Er wird Regierender Bürgermeister im
Jahre 1957. Mitten im Kalten Krieg. Er kämpft für ein freies Berlin.
Wir können es uns heute kaum noch vorstellen, was das hieß. Diese
Stadt an der Nahtstelle zwischen 0st und West war verletzlich und einnehmbar,
die Hoffnung, sie auf Dauer gegen den Willen der russischen Besatzungsmacht
über eine Luftbrücke am Leben zu halten, eine lllusion.
Im Zentrum seines Wirkens steht die Abwehr der sowjetischen Versuche, Berlin
vom Westen abzukoppeln und in den Ostblock zu zwingen. Brandt ringt darum, die
deutsche Frage offenzuhalten. 1961 beim Bau der Mauer wird er zum Mann der
Stunde, der Schlimmeres verhütet. Er hilft den Berlinern, nicht in
Depression zu versinken.
In diesen zähen Alltagsauseinandersetzungen dürfte die berühmte
Rede von John F. Kennedy vor dem Rathaus Schöneberg zu seinen großen
Augenblicken gezählt haben. Dort verkündete der amerikanische
Präte denn er stand in der Mitte auf dem Kardantunnel... (Ob der alte
Fuchs Adenauer das wohl bedacht hat bei der protokollarischen
Vorbesprechung?)
Der Mauerbau macht die Schwächen der Adenauer Politik sichtbarer denn je
und wird zur Geburtsstunde der deutschen Ostpolitik, die für alle Zeit mit
dem Namen Willy Brandt verknüpft bleibt. Aber ebenso mit der Person Egon
Bahr, enger Vertrauter von Brandt. Als Architekten der Ostpolitik entwickeln
sie vollkommen neue Visionen, die unter den Stichworten "Politik der kleinen
Schritte" und "Wandel durch Annäherung" in die Geschichte eingehen.
Konrad Adenauer integrierte die zweite deutsche Republik in den Westen. Willy
Brandt engagierte sich für die Verständigung und die Versöhnung
mit dem europäischen Osten und legte damit die Grundsteine für den
Zusammenhalt Europas.
Sein Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos wird 1970 zum Symbol
dieser Politik. Der aufrechte Kämpfer gegen totalitäre
Unterdrückung - selbst ein Opfer - kniet vor den Opfern. Willy Brandt
später: "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der
Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Stimme versagt."
Der Gründer des "Stern", Henri Nannen, war damals dabei. Tief bewegt
formulierte er: "lch habe in Warschau daneben gestanden, als piötzlich
seine Lippen zu zittern begannen und er in die Knie fiel. Das Gefühl der
Schuld hatte ihn übermannt, der deutschen Schuld gegenüber den
Völkern des Ostens, die wahrhaft nicht Willy Brandts persönliche
Schuld gewesen war, aber die Schuld seines Volkes, aus der er sich nicht
davonstehlen wollte. Wo in aller Welt hat ein Mann, der auf der Höhe
seines Erfolges stand, solche innere Bescheidenheit besessen, wo hat er sich
stellvertretend für andere mitschuldig gefühlt?"
Die von mir sehr geschätzte sozial liberale FDP Politikerin Hildegard Hamm
Brücher schildert eine andere Szene, die sie eine Woche nach Brandts
Polenbesuch in der Kabinettsrunde miterlebte: "Brandt war noch sehr bewegt von
den Ereignissen in Polen. In der Sitzung herrschte nur Streit:
Verteidigungsminister Helmut Schmidt, Finanzminister Möller und
Wirtschaftsminister Schiller hatten sich wegen des Haushalts in den Haaren.
Willy Brandt hörte sich das eine Zeitlang still an, sagte dann: `Ich
denke, daß spätere Generationen, wenn sie die Protokolle dieser
Kabinettsitzung lesen werden, vielleicht hören möchten, daß die
Kabinettskollegen auch ein Wort der Anerkennung oder der Zustimmung
äußern zu dem, was zum ersten Mal nach so vielen Jahren in der
Begegnung mit den Polen möglich war.' Da herrschte eine tiefe
Betroffenheit. Das war eine typische Szene für Willy Brandt: Er hatte
immer den Blick für die großen Ziele. Das war seine Stärke
und gelegentlich seine Schwäche." Soweit Frau Hamm Brücher.
Ein Jahr später, im Jahre 1971, erhält Willy Brandt die
Würdigung für seine Entspannungspolitik: den Friedensnobelpreis. Die
konservative Bonner Politik war wie versteinert. Als die Nachricht von der
hohen Auszeichnung den Bundestag erreicht, erhebt sich mit Ausnahme von
Adenauers Pressesprecher von Eckardt und Innenminister Hermann Höcherl
kein Christdemokrat von den Stühlen.
Ob es mehr war als eine "gewisse Genugtuung"" für Willy Brandt, als die
von ihm eingeleitete und von Helmut Schmidt weitergeführte Ostpolitik auch
unter der Regierung Kohl in ihren Grundzügen unverändert blieb - wir
wissen es nicht. Aber es dürfte Willy Spaß gemacht haben, daß
diejenigen, die seine Vertragspolitik einst Verrat nannten, später
Kontinuität beteuerten, Kredite besorgten und sich die Türklinken in
die Hand gaben, wenn in Leipzig oder Moskau oder sonstwo Geschäfte zu
machen waren. Die deutschen Konservativen hatten dazugelernt. Günter Grass
hat recht: Der Fortschritt ist eben doch eine Schnecke.
Späte Genugtuung für Willy Brandt war auch der Fall der Mauer 1989.
Im August 1961, wenige Tage nach dem Mauerbau, hatte er formuliert: "Was
zusammengehört, ist auseinandergerissen worden." Fast drei Jahrzehnte
später konnte er in Berlin den historischen Satz prägen: "Jetzt
wächst zusammen, was zusammengehört."
Ein großer politischer Traum war in Erfüllung gegangen. Obwohl kein
Kirchenmitglied, jubelte Willy: "Ich bin dem Herrgott dankbar dafür,
daß ich dies miterleben darf."
Willy wäre nicht Willy, wenn er nicht auch hier weiter gedacht hätte
als andere. In seiner Rede als Alterspräsident des ersten gesamtdeutschen
Bundestages am 20. Dezember 1990 erklärt er: "Menschen, die mir freundlich
gesonnen sind, bemerken dann und wann, der Tag, an dem sich die Deutschen in
Freiheit vereinten, müsse die Erfüllung meines politischen Lebens
sein. Das ist zu kurz gedacht und zu eng. Ich möchte den Tag sehen, an dem
Europa eins geworden ist."
Der große Europäer sah, daß noch nicht alle Aufgaben erledigt
waren. Schon in seiner Antrittsrede als SPD Vorsitzender hatte er 1964
appelliert, an Gesamteuropa zu denken. 1987, in seiner Abschiedsrede als
Parteivorsitzender, warb er für eine handlungsfähige Gemeinschaft mit
gemeinsamer Währung und gemeinsamer Sicherheit. Das war mehr als der
irrationale 3,0-Zahlenfetischismus von heute.
Innenpolitisch hat Willy Brandt gleichermaßen Maßstäbe
gesetzt. Mit seiner ersten Regierungserklärung als Kanzler gab er 1969 das
Signal zum Durchlüften der Republik: "Mehr Demokratie wagen". Diese
Botschaft traf die Herzen der jungen Generation, die sich in den 60er Jahren
auf den Weg gemacht hatte, den politischen Mief zu beseitigen. Diese Botschaft
begeisterte. Sie brachte viele junge, reformhungrige Menschen in die SPD.
Was in den 60er Jahren "Erstarrung" genannt wurde, heißt heute
"Reformstau". Jetzt, Ende der 90er Jahre, ist es wieder an der Zeit, daß
in Deutschland kräftig durchgelüftet wird!
"Mehr Demokratie wagen" beschränkte sich für Willy nicht auf die
Regierung. Für ihn war lebendige Demokratie die Sache jedes einzelnen. Ob
im Betrieb, in der Partei oder in der Beziehung von Mann und Frau. Er forderte
Menschen, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten. Er wollte
den Bürger, nicht den Bourgeois.
Menschen aufzufordern, mitzumachen, sie einzuladen, ihre Rechte und Pflichten
wahrzunehmen - das sind die Pfeiler einer Gesellschaft, die heute unter dem
Stichwort "aktive Bürgergesellschaft" diskutiert werden. Ich plädiere
für eine Gesellschaft, in der der Staat die Verantwortung für die
Lösung gesellschaftlicher Probleme hat - aber nicht das Monopol. Eine
Gesellschaft, in der der berühmte Appell von John F.. Kennedy "Fragt
nicht, was das Land für Euch tun kann, sondern fragt, was Ihr für
Euer Land tun könnt" neue Aktualität erlangt.
Wer den Reformstau auflösen will, muß den Menschen das Gefühl
geben, daß ihr Engagement gebraucht wird, daß ihre Probleme
gelöst werden sollen und keine Fingerspiele auf der politischen Bühne
vorgeführt werden.
Willy Brandt war 23 Jahre lang Vorsitzender einer "nicht einfachen Partei in
einem laut Gustav Heinemann schwierigen Vaterland". Ich gebe zu, wir alle -
auch ich - haben es ihm nicht immer leicht gemacht. Und trotzdem besaß er
die Größe, uns Enkeln früh die Chance zum Mitgestalten zu
geben.
Willy Brandt hat das Gesicht der SPD geprägt wie vor ihm nur August Bebel.
Mit seinem Charisma konnte Willy Brandt Menschen begeistern und - jenseits der
alten Arbeiterpartei - völlig neue Wählerschichten ansprechen. Mit
seinem Weitblick wies er neue Wege, ohne zu vergessen, daß auch der
längste Weg mit einem kleinen Schritt beginnt. Stets blieb er offen
für neue Gedanken. Viele haben ihn verehrt. Manche glaubten, ihn hassen zu
müssen. Keinen ließ er gleichgültig.
Willys große Gabe, in Bildern und griffigen Formeln zu sprechen, hat
vielen imponiert. Den Humor ließ er nie zu kurz kommen. Er verfügte
über eine gesunde Portion Sarkasmus. In seiner Abschiedsrede nach fast
einem Vierteljahrhundert an der Spitze der SPD zitiert er Traven: "In dessen
erstem Dschungelroman ist nachzulesen, wie ein mexikanischer Indianerstamm es
bei der Häuptlingswahl hielt. Die zogen dem Neugewählten die Hose
runter und hielten ihn mit dem nackten Hintern einen Augenblick übers
Feuer. Du sollst nicht zu lange auf Deinem Häuptlingsstuhl sitzen bleiben,
so in etwa könnte man das Bild deuten." In dieser Weise sprach Willy
über sich.
Nur wenige sind so stark, sich selbst auf den Arm nehmen zu können. Willy
konnte das. Etwas mehr dieser inneren Souveränität und Selbstironie
könnte die deutsche Politik anno 1998 schon noch vertragen.
Willy konnte das Leben genießen. Er hat sein Ferienhaus in Frankreich oft
besucht und geliebt. Diese Fähigkeit, von der Politik Abstand zu nehmen,
machte ihn für viele zugänglich. Gleichzeitig wurde diese
Fähigkeit auch ausgenutzt, um ihn zu stürzen. In den Momenten, in
denen er sich zurückzog und in sich verschloß, mag er geahnt haben,
daß seine warmherzige und offene Art auch gegen ihn verwendet werden
konnte.
Willy sparte nicht mit Selbstkritik. Nicht in seinen spannenden Memoiren. Nicht
in seinen bewegenden Reden. Selbstkritisch räumte er ein, ihm sei es oft
leichter gefallen, neuen Themen nachzuspüren, als danach hart genug am
Thema zu bleiben. Diese feine Art, sich selbstkritisch zu sehen, zeigt die
wahre Größe dieses Mannes. Eine Fähigkeit, die im heutigen
Politikbetrieb leider Seltenheitswert hat.
Auch ohne das Amt des SPD Vorsitzenden blieb Willy eine Autorität.
Sechzehn Jahre lang war er Präsident der Sozialistischen Internationale.
Anerkennend schreibt der konservative Professor Hans Peter Schwarz: "Ein Club
eifersüchtiger, ehrpusseliger Mimosen - Olof Palme, François
Mitterand, Bruno Kreisky, Schimon Peres, Julius Nyerere - und das sind nicht
die einzigen, findet sich wieder und wieder bereit, einen Deutschen zum
Vorsitzenden zu wählen. So umstritten Brandt während der ganzen
siebziger und achtziger Jahre hierzulande auch gewesen ist, auf der
internationalen Bühne hat sich der Friedensnobelpreisträger als
großes Atout für Deutschland erwiesen." Ich denke, dem stimmen wir
alle aus ganzem Herzen zu.
Willy Brandt gab entscheidende Anstöße, den Blick über den
europäischen Tellerrand zu lenken und die Sozialistische Internationale
auf allen Kontinenten zu verankern. Nicht nur den Ost West Konflikt zu
entschärfen, sondern auch für den Ausgleich zwischen Nord und
Süd zu sorgen. Als Vorsitzender der internationalen Nord Süd
Kommission wird er zum Anwalt der Dritten Welt.
Doch im Vergleich zur Ostpolitik fallen seine Nord-Süd-Anstöße
auf weniger fruchtbaren Boden, sowohl national als auch international. Noch
immer verhungern in jeder Minute mehr als 28 Kinder in einer Welt, deren
Wirtschaftskraft ausreichen würde, alle satt zu machen. "Erst das Fressen,
dann die Moral" - diesen Brecht Satz nutzte Brandt vor über einem
Jahrzehnt zu einem leidenschaftlichen Appell: "Gerade weil wir in den reichen
Ländern zu `fressen' haben, sollten wir die Moral aufbringen, der Misere
in der sogenannten Dritten Welt ein Ende zu bereiten."
Und wie sieht es heute aus? Zwar spenden die Deutschen. mehr denn je, ob
für die Welthungerhilfe, Brot für die Welt, Unicef, terre des hommes
oder Schüler helfen Leben. Aber ich werde das Gefühl nicht los,
daß die politischen Mechanismen der Armut in einem großen Teil der
Welt und des Reichtums in einem kleinen Teil der Welt niemand mehr begreift,
weil es keine Politik mehr gibt, die das vermittelt.
Willy Brandt verkörperte wie kein Zweiter Macht und Moral in einer Person.
Das - aber nicht nur das - machte ihn zum Magneten für Künstler und
Intellektuelle. Für den "Stern" war Willy Brandt der erste und letzte
Bundeskanzler, der das Gespräch mit den Künstlern und Intellektuellen
suchte und ihm auch folgen konnte. Willy gelang es, die Distanz zwischen
Politik und Kultur abzubauen. Mehr noch: Er inspirierte zum gemeinsamen
Handeln. Und deshalb freue ich mich ganz besonders, Günter Grass und seine
Ehefrau heute unter uns zu sehen.
In seinen "Erinnerungen" hat Willy Brandt den Intellektuellen und vor allem
Günter Grass ein kleines Denkmal gesetzt. Er schreibt: "Besonders gern
denke ich daran, wie sich das geistige Deutschland für das dreifache
Bemühen um Friedenssicherung, lebendige Demokratie und gesellschaftliche
Erneuerung engagierte. Eine besondere Rolle spielte Günter Grass. Er hatte
mich schon im Wahlkampf 1961 zu einer Reihe von Veranstaltungen begleitet.
Später begründete er eigene Wählerinitiativen und brachte
vermutlich auch Stimmen, jedenfalls aber Farbe ins politische Geschäft.
Städtebauer, Theaterleute, Naturwissenschaftler, Pädagogen stellten
ihren Rat zur Verfügung und meldeten sich öffentlich zu Wort. Grass
selbst, Heinrich Böll, Walter Jens, Max Frisch sprachen auf Parteitagen."
Soweit das Zitat aus Willys Memoiren.
Lieber Günter Grass: Ich spreche sicherlich für viele hier im
Burgkloster, wenn ich sage: Es ist höchste Zeit, daß wieder mehr
intellektuelle Farbe ins politische Geschäft kommt!
Es ist unmöglich, das Leben und Wirken Willy Brandts auf eine Kurzformel
zu bringen. Er war ein Mann mit bewegender Geschichte, der Geschichte bewegte.
Ein großer Staatsmann. Eine Jahrhundertgestalt.
Felipe Gonzales, der ehemalige spanische Regierungschef, fand die Worte:
"Deutscher bis ins Mark, Europäer aus Überzeugung, Weltbürger
aus Berufung". Ich denke, Willy hätte gegen diese Charakterisierung keinen
Protest erhoben.
Dem französischen Philosophen und sozialistischen Politiker Jean Jaures
wird der Satz zugeschrieben: "Tradition heißt nicht, Asche zu bewahren,
sondern eine Flamme am Brennen zu halten." In diesem Sinne wünsche ich
mir, daß diese Ausstellung über Willy Brandt viele Menschen erreicht
und bewegt.." +++
Heide Simonis ist Ministerpräsidentin des Landes
Schleswig-Holstein.
Zurück zur Übersicht